Ankunft/Fräulein
Klara/Herrn Green/Abendmahl/Kampf und Erregung/Jujitsu/Herumirren/Der
alte Diener/Gespräch mit den Herren Pollunder und Green/Zwischen 11
und 12 nachts/Unfolgsamkeit/Zeiteinteilung/Klavierspiel/Der Brief
"Wir
sind angekommen", sagte Herr Pollunder gerade in einem von
Josies verlorenen Momenten. Das Automobil stand vor einem Landhaus,
das, nach der Art von Landhäusern reicher Leute in der Umgebung New
Yorks, umfangreicher und höher war, als es sonst für ein Landhaus
nötig ist, das bloß einer Familie dienen soll. Da nur der untere
Teil des Hauses beleuchtet war, konnte man gar nicht bemessen, wie
weit es in die Höhe reichte. Vorne rauschten Kastanienbäume,
zwischen denen — das Gitter war schon geöffnet — ein kurzer Weg
zur Freitreppe des Hauses führte. An seiner Müdigkeit beim
Aussteigen glaubte Josie zu bemerken, dass die Fahrt doch ziemlich
lang gedauert hatte. Im Dunkel der Kastanienallee hörte er eine
Mädchenstimme neben sich sagen: "Da ist ja endlich der Herr
Jakob." "Ich heiße Rossmann", sagte Josie und fasste
die ihm hin gereichte Hand eines Mädchens, das er jetzt in Umrissen
erkannte. "Er ist ja nur Jakobs Neffe", sagte Herr
Pollunder erklärend, "und heißt selbst Josie Rossmann."
"Das ändert nichts an unserer Freude, ihn hier zu haben",
sagte das Mädchen, dem an Namen nicht viel lag. Trotzdem fragte
Josie noch, während er zwischen Herrn Pollunder und dem Mädchen auf
das Haus zuschritt: "Sie sind das Fräulein Klara?" "Ja",
sagte sie und schon fiel ein wenig unterscheidendes Licht vom Hause
her auf ihr Gesicht, das sie ihm zuneigte, "ich wollte mich aber
hier in der Finsternis nicht vorstellen." "Ja hat sie uns
denn am Gitter erwartet?" dachte Josie, der im Gehen allmählich
aufwachte. "Wir haben übrigens noch einen Gast heute Abend",
sagte Klara. "Nicht möglich!" rief Pollunder ärgerlich.
"Herrn Green", sagte Klara. "Wann ist er gekommen?"
fragte Josie wie in einer Ahnung befangen. "Vor einem
Augenblick. Habt ihr denn sein Automobil nicht vor dem euren gehört?"
Josie sah zu Pollunder auf, um zu erfahren, wie er die Sache
beurteile, aber der hatte die Hände in den Hosentaschen und stampfte
bloß etwas stärker im Gehn. "Es nützt nichts nur knapp
außerhalb New Yorks zu wohnen, von Störungen bleibt man nicht
verschont. Wir werden unsern Wohnsitz unbedingt noch weiter verlegen
müssen. Und sollte ich die halbe Nacht durchfahren müssen, ehe ich
nach Hause komme." Sie blieben an der Freitreppe stehn. "Aber
Herr Green war doch schon sehr lange nicht hier", sagte Klara,
die offenbar mit ihrem Vater gänzlich einverstanden war, ihn aber
über sich heraus beruhigen wollte. "Warum kommt er dann gerade
heute Abend", sagte Pollunder und die Rede rollte schon wütend
über die wulstige Unterlippe, die als loses schweres Fleisch leicht
in große Bewegung kam. "Allerdings!" sagte Klara.
"Vielleicht wird er bald wieder weg gehn", bemerkte Josie
und staunte selbst über das Einverständnis, in welchem er sich mit
diesen noch gestern ihm gänzlich fremden Leuten befand. "Oh
nein", sagte Klara, "er hat irgendein großes Geschäft für
Papa, dessen Besprechung wahrscheinlich lange dauern wird, denn er
hat mir schon im Spaß gedroht, dass ich wenn ich eine höfliche
Hauswirtin sein will, bis zum Morgen werde zuhören müssen."
"Also auch das noch. Dann bleibt er über Nacht", rief
Pollunder, als sei damit endlich das Schlimmste erreicht. "Ich
hätte wahrhaftig Lust", sagte er und wurde freundlicher durch
den neuen Gedanken, "ich hätte wahrhaftig Lust, Sie Herr
Rossmann wieder ins Automobil zu nehmen und zu ihrem Onkel
zurückzubringen. Der heutige Abend ist schon von vornherein gestört
und wer weiß, wann Sie uns nächstens ihr Herr Onkel wieder
überlässt. Bringe ich Sie aber heute schon wieder zurück, so wird
er Sie uns nächstens doch nicht verweigern können." Und er
fasste Josie schon bei der Hand, um seinen Plan auszuführen. Aber
Josie rührte sich nicht und Klara bat, ihn hier zu lassen, denn
zumindestens sie und Josie würden von Herrn Green nicht im
Geringsten gestört werden können und schließlich merkte auch
Pollunder, dass selbst sein Entschluss nicht der festeste war.
Überdies — und dies war vielleicht das Entscheidende — hörte
man plötzlich Herrn Green vom obersten Treppenaufsatz in den Garten
hinunter rufen: "Wo bleibt ihr denn?" "Kommt",
sagte Pollunder und bog auf die Freitreppe ein. Hinter ihm gingen
Josie und Klara, die einander jetzt im Licht studierten. "Die
roten Lippen, die sie hat", sagte sich Josie und dachte an die
Lippen des Herrn Pollunder und wie schön sie sich in der Tochter
verwandelt hatten. "Nach dem Nachtmahl", so sagte sie,
"werden wir, wenn es ihnen recht ist, gleich in meine Zimmer
gehn, damit wir wenigstens diesen Herrn Green los sind, wenn schon
Papa sich mit ihm beschäftigen muss. Und Sie werden dann so
freundlich sein mir Klavier vorzuspielen, denn Papa hat schon
erzählt, wie gut Sie das treffen, ich aber bin leider ganz unfähig
Musik auszuüben und rühre mein Klavier nicht an, so sehr ich die
Musik eigentlich liebe." Mit dem Vorschlag Klaras war Josie ganz
einverstanden, wenn er auch gern Herrn Pollunder mit in ihre
Gesellschaft hätte ziehen wollen. Vor der riesigen Gestalt Greens —
an Pollunders Größe hatte sich Josie eben schon gewöhnt — die
sich vor ihnen, wie sie die Stufen hinauf stiegen, langsam
entwickelte, wich allerdings von Josie jede Hoffnung, diesem Manne
den Herrn Pollunder heute Abend irgendwie zu entlocken.
Herr
Green empfing sie sehr eilig, als sei vieles einzuholen, nahm Herrn
Pollunders Arm und schob Josie und Klara vor sich in das
Speisezimmer, das besonders infolge der Blumen auf dem Tische, die
sich aus Streifen frischen Laubes halb aufrichteten, sehr festlich
aussah und doppelt die Anwesenheit des störenden Herrn Green
bedauern ließ. Gerade freute sich noch Josie, der beim Tische
wartete, bis die andern sich setzten, dass die große Glastüre zum
Garten hin offen bleiben würde, denn ein starker Duft wehte herein
wie in eine Gartenlaube, da machte sich gerade Herr Green unter
Schnaufen daran, diese Glastüre zuzumachen, bückte sich nach den
untersten Riegeln, streckte sich nach den obersten und alles so
jugendlich rasch, dass der herbei eilende Diener nichts mehr zu tun
fand. Die ersten Worte des Herrn Green bei Tische waren Ausdrücke
des Staunens darüber, dass Josie die Erlaubnis des Onkels zu diesem
Besuche bekommen hatte. Einen gefüllten Suppenlöffel nach dem
andern hob er zum Mund und erklärte rechts zu Klara, links zu Herrn
Pollunder, warum er so staune und wie der Onkel über Josie wache und
wie die Liebe des Onkels zu Josie zu groß sei, als dass man sie noch
die Liebe eines Onkels nennen könne. "Nicht genug, dass er sich
hier unnötig einmischt, mischt er sich noch gleichzeitig zwischen
mich und den Onkel ein", dachte Josie und konnte keinen Schluck
der goldfarbigen Suppe hinunter bringen. Dann wollte er sich aber
wieder nicht anmerken lassen, wie gestört er sich fühlte, und
begann die Suppe stumm in sich hinein zu schütten. Das Essen verging
langsam wie eine Plage. Nur Herr Green und höchstens noch Klara
waren lebhaft und fanden mitunter Gelegenheit zu einem kurzen Lachen.
Herr Pollunder verfing sich nur einige Mal in die Unterhaltung, wenn
Herr Green von Geschäften zu sprechen anfing. Doch zog er sich auch
von solchen Gesprächen bald zurück und Herr Green musste ihn nach
einiger Zeit wieder unvermutet damit überraschen. Er legte übrigens
Gewicht darauf — und da war es, dass Josie, der aufhorchte, als
drohe etwas, von Klara darauf aufmerksam gemacht werden musste, dass
der Braten vor ihm stand und er bei einem Abendessen war — dass er
von vornherein nicht die Absicht gehabt habe, diesen unerwarteten
Besuch zu machen. Denn wenn auch das Geschäft, von dem noch
gesprochen werden solle, von besonderer Dringlichkeit sei, so hätte
wenigstens das Wichtigste heute in der Stadt verhandelt und das
Nebensächlichere für morgen oder später aufgespart werden können.
Und so sei er auch tatsächlich noch lange vor Geschäftsschluss bei
Herrn Pollunder gewesen, habe ihn aber nicht angetroffen, so dass er
gezwungen gewesen sei, nach Hause zu telefonieren, dass er über
Nacht ausbleibe, und heraus zu fahren. "Dann muss ich um
Entschuldigung bitten", sagte Josie laut und ehe jemand Zeit zur
Antwort hatte, "denn ich bin daran Schuld, dass Herr Pollunder
sein Geschäft heute früher verließ und es tut mir sehr leid."
Herr Pollunder bedeckte den größern Teil seines Gesichtes mit der
Serviette, während Klara Josie zwar anlächelte, doch war es kein
teilnehmendes Lächeln, sondern eines, das ihn irgendwie beeinflussen
sollte. "Da braucht es keine Entschuldigung", sagte Herr
Green, der gerade eine Taube mit scharfen Schnitten zerlegte, "ganz
im Gegenteil, ich bin ja froh, den Abend in so angenehmer
Gesellschaft zu verbringen, statt das Nachtmahl allein zuhause
einzunehmen, wo mich meine alte Wirtschafterin bedient, die so alt
ist, dass ihr schon der Weg von der Tür zu meinem Tisch schwer fällt
und ich mich für lange in meinem Sessel zurück lehnen kann, wenn
ich sie auf diesem Gang beobachten will. Erst vor Kurzem habe ich
durchgesetzt, dass der Diener die Speisen bis zur Tür des
Speisezimmers bringt, der Weg aber von der Tür zu meinem Tisch
gehört ihr, so weit ich sie verstehe." "Mein Gott",
rief Klara, "ist das eine Treue!" "Ja, es gibt noch
Treue auf der Welt", sagte Herr Green und führte einen Bissen
in den Mund, wo die Zunge, wie Josie zufällig bemerkte, mit einem
Schwunge die Speise ergriff. Ihm wurde fast übel und er stand auf.
Fast gleichzeitig griffen Herr Pollunder und Klara nach seinen
Händen. "Sie müssen noch sitzen bleiben", sagte Klara.
Und als er sich wieder gesetzt hatte, flüsterte sie ihm zu: "Wir
werden bald zusammen verschwinden. Haben Sie Geduld." Herr Green
hatte sich inzwischen ruhig mit seinem Essen beschäftigt, als sei es
Herrn Pollunders und Klaras natürliche Aufgabe, Josie zu beruhigen,
wenn er ihm Übelkeiten verursachte.
Das
Essen zog sich besonders durch die Genauigkeit in die Länge, mit der
Herr Green jeden Gang behandelte, wenn er auch immer bereit war,
jeden neuen Gang ohne Ermüdung zu empfangen; es bekam wirklich den
Anschein, als wolle er sich von seiner alten Wirtschafterin gründlich
erholen. Hin und wieder lobte er Fräulein Klaras Kunst in der
Führung des Hauswesens, was ihr sichtlich schmeichelte, während
Josie versucht war ihn abzuwehren, als greife er sie an. Aber Herr
Green begnügte sich nicht einmal mit ihr, sondern bedauerte öfters,
ohne vom Teller aufzusehn, die auffallende Appetitlosigkeit Josies.
Herr Pollunder nahm Josies Appetit in Schutz, trotzdem er als
Gastgeber Josie auch zum Essen hätte aufmuntern sollen. Und
tatsächlich fühlte sich Josie durch den Zwang, unter dem er während
des ganzen Nachtmahls litt, so empfindlich, dass er gegen die eigene
bessere Einsicht diese Äußerung Herrn Pollunders als
Unfreundlichkeit auslegte. Und es entsprach nur diesem seinem
Zustand, dass er einmal ganz unpassend rasch und viel aß und dann
wieder für lange Zeit müde Gabel und Messer sinken ließ und der
unbeweglichste der Gesellschaft war, mit dem der Diener, der die
Speisen reichte, oft nichts anzufangen wusste.
"Ich
werde schon morgen dem Herrn Senator erzählen, wie Sie das Fräulein
Klara durch ihr Nichtessen gekränkt haben", sagte Herr Green
und beschränkte sich darauf, die spaßige Absicht dieser Worte durch
die Art, wie er mit dem Besteck hantierte auszudrücken. "Sehen
Sie nur das Mädchen an, wie traurig es ist", fuhr er fort und
griff Klara unters Kinn. Sie ließ es geschehn und schloss die Augen.
"Du Dingschen", rief er, lehnte sich zurück und lachte
hochrot im Gesicht mit der Kraft des Gesättigten. Vergebens suchte
sich Josie das Benehmen Herrn Pollunders zu erklären. Der saß vor
seinem Teller und sah in ihn, als geschehe dort das eigentlich
Wichtige. Er zog Josies Sessel nicht näher zu sich und wenn er
einmal sprach, so sprach er zu allen, aber zu Josie hatte er nichts
Besonderes zu reden. Dagegen duldete er, dass Green, dieser alte,
ausgepichte New Yorker Junggeselle, mit deutlicher Absicht Klara
berührte, dass er Josie, Pollunders Gast, beleidigte oder wenigstens
als Kind behandelte und wer weiß zu welchen Taten sich stärkte und
vordrang.
Nach
Aufhebung der Tafel — als Green die allgemeine Stimmung merkte, war
er der erste, der aufstand und gewissermaßen alle mit sich erhob —
ging Josie allein abseits zu einem der großen, durch schmale, weiße
Leisten geteilten Fenster, die zur Terrasse führten und die
eigentlich, wie er beim Nähertreten merkte, richtige Türen waren.
Was war von der Abneigung übrig geblieben, die Herr Pollunder und
seine Tochter anfangs gegenüber Green gefühlt hatten und die damals
Josie etwas unverständlich vorgekommen war. Jetzt standen sie mit
Green beisammen und nickten ihm zu. Der Rauch aus Herrn Greens
Zigarre, einem Geschenk Pollunders, die von jener Dicke war, von der
der Vater zuhause hier und da als von einer Tatsache zu erzählen
pflegte, die er wahrscheinlich selbst mit eigenen Augen niemals
gesehen hatte, verbreitete sich in dem Saal und trug Greens Einfluss
auch in Winkel und Nischen, die er persönlich niemals betreten
würde. So weit entfernt Josie auch stand, noch er spürte von dem
Rauch einen Kitzel in der Nase und das Benehmen Herrn Greens, nach
welchem er sich von seinem Platz aus nur einmal schnell umsah,
erschien ihm infam. Jetzt hielt er es gar nicht mehr für
ausgeschlossen, dass ihm der Onkel die Erlaubnis zu diesem Besuch nur
deshalb so lange verweigert hatte, weil er den schwachen Charakter
Herrn Pollunders kannte und infolgedessen eine Kränkung Josies bei
diesem Besuch wenn auch nicht genau voraussah, so doch im Bereich der
Möglichkeit erblickte. Auch das amerikanische Mädchen gefiel ihm
nicht, trotzdem er sich sie durchaus nicht etwa viel schöner
vorgestellt hatte. Seitdem sich Herr Green mit ihr abgegeben hatte,
war er sogar überrascht von der Schönheit, deren ihr Gesicht fähig
war, und besonders von dem Glanz ihrer unbändig bewegten Augen.
Einen Rock, der so fest wie der ihre den Körper umschlossen hätte,
hatte er noch niemals gesehen: Kleine Falten in dem gelblichen,
zarten und festen Stoff zeigten die Stärke der Spannung. Und doch
lag Josie gar nichts an ihr und er hätte gern darauf verzichtet, auf
ihre Zimmer geführt zu werden, wenn er statt dessen die Tür auf
deren Klinke er für jeden Fall die Hände gelegt hatte, hätte
öffnen, ins Automobil steigen oder wenn der Chauffeur schon schlief,
nach New York allein hätte spazieren dürfen. Die klare Nacht mit
dem ihm zugeneigten vollen Mond stand frei für jedermann, und
draußen im Freien vielleicht Furcht zu haben, schien Josie sinnlos.
Er stellte sich vor — und zum ersten Mal wurde ihm in diesem Saale
wohl — wie er am Morgen — früher dürfte er kaum zu Fuß nach
Hause kommen — den Onkel überraschen wollte. Er war zwar noch
niemals in seinem Schlafzimmer gewesen, wusste auch gar nicht, wo es
lag, aber er wollte es schon erfragen. Dann wollte er anklopfen und
auf das förmliche "Herein!" ins Zimmer laufen und den
lieben Onkel, den er bisher immer nur bis hoch hinauf angezogen und
zugeknöpft kannte, aufrecht im Bette sitzend, die Augen erstaunt zur
Tür gerichtet, im Nachthemd überraschen. Das war ja an und für
sich vielleicht noch nicht viel, aber man musste nur ausdenken, was
das zur Folge haben konnte! Vielleicht würde er zum ersten Mal
gemeinsam mit seinem Onkel frühstücken, der Onkel im Bett, er auf
einem Sessel, das Frühstück auf einem Tischchen zwischen ihnen,
vielleicht würde dieses gemeinsame Frühstück zu einer ständigen
Einrichtung werden, vielleicht würden sie in Folge dieser Art
Frühstück, was sogar kaum zu vermeiden war, öfters als wie bisher
bloß einmal während des Tages zusammenkommen und dann natürlich
auch offener miteinander reden können. Es lag ja schließlich nur an
dem Mangel dieser offenen Aussprache, wenn er heute dem Onkel
gegenüber etwas unfolgsam oder besser starrköpfig gewesen war. Und
wenn er auch heute über Nacht hier bleiben musste — es sah leider
ganz danach aus, trotzdem man ihn hier beim Fenster stehn und auf
eigene Faust sich unterhalten ließ — vielleicht wurde dieser
unglückliche Besuch der Wendepunkt zum Bessern in dem Verhältnis
zum Onkel, vielleicht hatte der Onkel in seinem Schlafzimmer heute
Abend ähnliche Gedanken.
Ein
wenig getröstet wendete er sich um. Klara stand vor ihm und sagte:
"Gefällt es Ihnen denn gar nicht bei uns? Wollen Sie sich hier
nicht ein wenig heimisch fühlen? Kommen Sie, ich will den letzten
Versuch machen." Sie führte ihn quer durch den Saal zur Türe.
An einem Seitentisch saßen die beiden Herren bei leicht schäumenden,
in hohe Gläser gefüllten Getränken, die Josie unbekannt waren und
die er zu verkosten Lust gehabt hätte. Herr Green hatte einen
Ellbogen auf dem Tisch und sein ganzes Gesicht Herrn Pollunder
möglichst nahe gerückt; wenn man Herrn Pollunder nicht gekannt
hätte, hätte man ganz gut annehmen können, es werde hier etwas
Verbrecherisches besprochen und kein Geschäft. Während Herr
Pollunder mit freundlichem Blick Josie zur Türe folgte, sah sich
Green, trotzdem man doch schon unwillkürlich sich den Blicken seines
Gegenübers anzuschließen pflegt, auch nicht im Geringsten nach
Josie um, welchem in diesem Benehmen der Ausdruck einer Art
Überzeugung Greens zu liegen schien, jeder, Josie für sich, und
Green für sich solle hier mit seinen Fähigkeiten auszukommen
versuchen, die notwendige gesellschaftliche Verbindung zwischen ihnen
werde sich schon mit der Zeit durch den Sieg oder die Vernichtung
eines von beiden herstellen. "Wenn er das meint", sagte
sich Josie, "dann ist er ein Narr. Ich will wahrhaftig nichts
von ihm und er soll mich auch in Ruhe lassen." Kaum war er auf
den Gang getreten, fiel ihm ein, dass er sich wahrscheinlich
unhöflich benommen hatte, denn mit seinen auf Green gehefteten Augen
hatte er sich von Klara aus dem Zimmer fast schleppen lassen. Desto
williger ging er jetzt neben ihr her. Auf dem Wege durch die Gänge
traute er zuerst seinen Augen nicht, als er alle zwanzig Schritte
einen reich livrierten Diener mit einem Armleuchter stehen sah,
dessen dicken Schaft jener mit beiden Händen umschlossen hielt. "Die
neue elektrische Leitung ist bisher nur im Speisezimmer eingeführt",
erklärte Klara. "Wir haben dieses Haus erst vor Kurzem gekauft
und es gänzlich umbauen lassen, so weit sich ein altes Haus mit
seiner eigensinnigen Bauart überhaupt umbauen lässt." "Da
gibt es also auch schon in Amerika alte Häuser", sagte Josie.
"Natürlich", sagte Klara lachend und zog ihn weiter. "Sie
haben merkwürdige Begriffe von Amerika." "Sie sollen mich
nicht auslachen", sagte er ärgerlich. Schließlich kannte er
schon Europa und Amerika, sie aber nur Amerika.
Im
Vorübergehn stieß Klara mit leicht ausgestreckter Hand eine Tür
auf und sagte ohne anzuhalten: "Hier werden Sie schlafen."
Josie wollte natürlich das Zimmer sich gleich anschauen, aber Klara
erklärte ungeduldig und fast schreiend, das habe doch Zeit und er
solle nur vorher mitkommen. Sie zogen sich auf dem Gang ein wenig hin
und her, schließlich meinte Josie, er müsse sich nicht in allem
nach Klara richten, riss sich los und trat in das Zimmer. Ein
überraschendes Dunkel vor dem Fenster erklärte sich durch einen
Baumwipfel, der sich dort in seinem vollen Umfang wiegte. Man hörte
Vögelgesang. Im Zimmer selbst, das vom Mondlicht noch nicht erreicht
war, konnte man allerdings fast gar nichts unterscheiden. Josie
bedauerte die elektrische Taschenlampe, die er vom Onkel geschenkt
bekommen hatte, nicht mitgenommen zu haben. In diesem Hause war ja
eine Taschenlampe unentbehrlich, hätte man ein paar solcher Lampen
gehabt, hätte man die Diener schlafen schicken können. Er setzte
sich aufs Fensterbrett und sah und horchte hinaus. Ein aufgestörter
Vogel schien sich durch das Laubwerk des alten Baumes zu drängen.
Die Pfeife eines New Yorker Vorortzuges erklang irgendwo im Land.
Sonst war es still.
Aber
nicht lange, denn Klara kam eilends herein. Sichtlich bös rief sie:
"Was soll denn das?" und klatschte auf ihren Rock. Josie
wollte erst antworten, bis sie höflicher war. Aber sie ging mit
großen Schritten auf ihn zu, rief: "Also wollen Sie mit mir
kommen oder nicht?" und stieß ihn mit Absicht oder bloß in der
Erregung derartig an die Brust, dass er aus dem Fenster gestürzt
wäre, hätte er nicht noch im letzten Augenblick vom Fensterbrett
gleitend mit den Füßen den Zimmerboden berührt. "Jetzt wäre
ich bald heraus gefallen", sagte er vorwurfsvoll. "Schade,
dass es nicht geschehen ist. Warum sind Sie so unartig. Ich stoße
Sie noch einmal hinunter." Und wirklich umfasste sie ihn und
trug ihn, der verblüfft sich zuerst schwer zu machen vergaß, mit
ihrem vom Sport gestählten Körper fast bis zum Fenster. Aber dort
besann er sich, machte sich mit einer Wendung der Hüften los und
umfasste nun sie. "Ach, Sie tun mir weh", sagte sie gleich.
Aber nun glaubte sie Josie nicht mehr loslassen zu dürfen. Er ließ
ihr zwar Freiheit, Schritte nach Belieben zu machen, folgte ihr aber
und ließ sie nicht los. Es war auch so leicht, sie in ihrem engen
Kleid zu umfassen. "Lassen Sie mich", flüsterte sie, das
erhitzte Gesicht eng an seinem; er musste sich anstrengen sie zu
sehn, so nahe war sie ihm, "lassen Sie mich, ich werde ihnen
etwas Schönes geben." "Warum seufzt sie so", dachte
Josie, "es kann ihr nicht wehtun, ich drücke sie ja nicht",
und er ließ sie noch nicht los. Aber plötzlich, nach einem
Augenblick unachtsamen, schweigenden Dastehns fühlte er wieder ihre
wachsende Kraft an seinem Leib und sie hatte sich ihm entwunden,
fasste ihn mit gut ausgenütztem Obergriff, wehrte seine Beine mit
Fußstellungen einer fremdartigen Kampftechnik ab und trieb ihn vor
sich mit großartiger Regelmäßigkeit Atem holend gegen die Wand.
Dort war aber ein Kanapee, auf das legte sie Josie hin und sagte,
ohne sich allzu sehr zu ihm hinab zu beugen: "Jetzt rühr dich,
wenn du kannst." "Katze, tolle Katze", konnte Josie
gerade noch aus dem Durcheinander von Wut und Scham rufen, in dem er
sich befand. "Du bist ja wahnsinnig, du tolle Katze." "Gib
Acht auf deine Worte", sagte sie und ließ die eine Hand zu
seinem Halse gleiten, den sie so stark zu würgen anfing, dass Josie
ganz unfähig war, etwas anderes zu tun, als Luft zu schnappen,
während sie mit der andern Hand an seine Wange fuhr, wie probeweise
sie berührte, sie wieder und zwar immer weiter in die Luft zurückzog
und jeden Augenblick mit einer Ohrfeige niederfahren lassen konnte.
"Wie wäre es", fragte sie dabei, "wenn ich dich zur
Strafe für dein Benehmen einer Dame gegenüber mit einer tüchtigen
Ohrfeige nach Hause schicken wollte. Vielleicht wäre es dir nützlich
für deinen künftigen Lebensweg, wenn es auch keine schöne
Erinnerung abgeben würde. Du tust mir ja leid und bist ein
erträglich hübscher Junge und hättest du Jiu-Jitsu gelernt,
hättest du wahrscheinlich mich durchgeprügelt. Trotzdem, trotzdem —
es verlockt mich geradezu riesig dich zu ohrfeigen, so wie du jetzt
daliegst. Ich werde es wahrscheinlich bedauern, wenn ich es aber tun
sollte, so wisse schon jetzt, dass ich es fast gegen meinen Willen
tun werde. Und ich werde mich dann natürlich nicht mit einer
Ohrfeige begnügen, sondern rechts und links schlagen, bis dir die
Backen anschwellen. Und vielleicht bist du ein Ehrenmann — ich
möchte es fast glauben — und wirst mit den Ohrfeigen nicht
weiterleben wollen und dich aus der Welt schaffen. Aber warum bist du
auch so gegen mich gewesen. Gefalle ich dir vielleicht nicht? Lohnt
es sich nicht auf mein Zimmer zu kommen? Achtung! Jetzt hätte ich
dir schon fast unversehens die Ohrfeige aufgepelzt. Wenn du heute
also noch so loskommen solltest, benimm dich nächstens feiner. Ich
bin nicht dein Onkel, mit dem du trotzen kannst. Im Übrigen will ich
dich noch darauf aufmerksam machen, dass wenn ich dich ungeohrfeigt
loslasse, du nicht glauben musst, dass deine jetzige Lage und
wirkliches Geohrfeigtwerden vom Standpunkt der Ehre aus das Gleiche
sind, solltest du das glauben wollen, so würde ich es doch vorziehn,
dich wirklich zu ohrfeigen. Was wohl Mack sagen wird, wenn ich ihm
das alles erzähle." Bei der Erinnerung an Mack ließ sie Josie
los, in seinen undeutlichen Gedanken erschien ihm Mack wie ein
Befreier. Er fühlte noch ein Weilchen Klaras Hand an seinem Hals,
wand sich daher noch ein wenig und lag dann still.
Sie
forderte ihn auf aufzustehen, er antwortete nicht und rührte sich
nicht. Sie entzündete irgendwo eine Kerze, das Zimmer bekam Licht,
ein blaues Zickzackmuster erschien auf dem Deckengetäfel, aber Josie
lag, den Kopf aufs Sofapolster aufgestützt, so wie ihn Klara
gebettet hatte, und wendete ihn nicht einen Finger breit. Klara ging
im Zimmer herum, ihr Rock rauschte um ihre Beine, wahrscheinlich beim
Fenster blieb sie eine lange Weile stehn. "Ausgetrotzt?"
hörte man sie dann fragen. Josie empfand es schwer, in diesem
Zimmer, das ihm doch von Herrn Pollunder für diese Nacht zugedacht
war, keine Ruhe bekommen zu können. Da wanderte dieses Mädchen
herum, blieb stehn und redete und er hatte sie doch so
unaussprechlich satt. Rasch schlafen und von hier fort gehn war sein
einziger Wunsch. Er wollte gar nicht mehr ins Bett, sondern nur hier
auf dem Kanapee bleiben. Er lauerte nur darauf, dass sie wegginge, um
hinter ihr her zur Tür zu springen, sie zu verriegeln und dann
wieder zurück auf das Kanapee sich zu werfen. Er hatte ein solches
Bedürfnis sich zu strecken und zu gähnen, aber vor Klara wollte er
das nicht tun. Und so lag er, starrte hinauf, fühlte sein Gesicht
immer unbeweglicher werden und eine ihn umkreisende Fliege flimmerte
ihm vor den Augen, ohne dass er recht wusste, was es war.
Klara
trat wieder zu ihm, beugte sich in die Richtung seiner Blicke und
hätte er sich nicht bezwungen, hätte er sie schon anschauen müssen.
"Ich gehe jetzt", sagte sie. "Vielleicht bekommst du
später Lust zu mir zu kommen. Die Tür zu meinen Zimmern ist die
vierte von dieser Tür aus gerechnet, auf dieser Seite des Ganges. Du
gehst also an drei weiteren Türen vorüber und die, zu welcher du
dann kommst, ist die richtige. Ich gehe nicht mehr hinunter in den
Saal, sondern bleibe schon in meinem Zimmer. Du hast mich aber auch
ordentlich müde gemacht. Ich werde nicht gerade auf dich warten,
aber wenn du kommen willst, so komm. Erinnere dich, dass du
versprochen hast, mir auf dem Klavier vorzuspielen. Aber vielleicht
habe ich dich ganz entnervt und du kannst dich nicht mehr rühren,
dann bleib und schlaf dich aus. Dem Vater sage ich vorläufig von
unserer Rauferei kein Wort; ich bemerke das für den Fall, dass dir
das Sorge machen sollte." Darauf lief sie trotz ihrer
angeblichen Müdigkeit mit zwei Sprüngen aus dem Zimmer.
Sofort
setzte sich Josie aufrecht, dieses Liegen war schon unerträglich
geworden. Um ein wenig Bewegung zu machen, ging er zur Tür und sah
auf den Gang hinaus. War dort aber eine Finsternis! Er war froh, als
er die Tür zugemacht und abgesperrt hatte, und wieder bei seinem
Tisch im Schein der Kerze stand. Sein Entschluss war, nicht länger
in diesem Haus zu bleiben, sondern hinunter zu Herrn Pollunder zu
gehn, ihm offen zu sagen, wie ihn Klara behandelt hatte — am
Eingeständnis seiner Niederlage lag ihm gar nichts — und mit
dieser wohl genügenden Begründung um die Erlaubnis zu bitten, nach
Hause fahren oder gehn zu dürfen. Sollte Herr Pollunder etwas gegen
diese sofortige Heimkehr einzuwenden haben, dann wollte ihn Josie
wenigstens bitten, ihn durch einen Diener zum nächsten Hotel führen
zu lassen. In dieser Weise, wie sie Josie plante, ging man zwar sonst
in der Regel nicht mit freundlichen Gastgebern um, aber noch seltener
ging man mit einem Gaste derartig um wie es Klara getan hatte. Sie
hatte sogar noch ihr Versprechen, dem Herrn Pollunder von der
Rauferei vorläufig nichts zu sagen, für eine Freundlichkeit
gehalten, das war aber schon Himmel schreiend. Ja war denn Josie zu
einem Ringkampf eingeladen worden, so dass es für ihn beschämend
gewesen wäre, von einem Mädchen geworfen zu werden, das
wahrscheinlich den größten Teil ihres Lebens mit dem Lernen von
Ringkämpferkniffen verbracht hatte. Am Ende hatte sie gar von Mack
Unterricht bekommen. Mochte sie ihm nur alles erzählen, der war
sicher einsichtig, das wusste Josie, trotzdem er niemals Gelegenheit
gehabt hatte, das im Einzelnen zu erfahren. Josie wusste aber auch,
dass wenn Mack ihn unterrichten würde, er noch viel größere
Fortschritte als Klara machen würde; dann käme er eines Tages
wieder hierher, höchstwahrscheinlich uneingeladen, untersuchte
natürlich zuerst die Örtlichkeit, deren genaue Kenntnis ein großer
Vorteil Klaras gewesen war, packte dann diese gleiche Klara und
klopfte mit ihr das gleiche Kanapee aus, auf das sie ihn heute
geworfen hatte.
Jetzt
handelte es sich nur darum, den Weg zum Saal zurück zu finden, wo er
ja wahrscheinlich auch seinen Hut in der ersten Zerstreutheit auf
einen unpassenden Platz gelegt hatte. Die Kerze wollte er natürlich
mitnehmen, aber selbst bei Licht war es nicht leicht sich
auszukennen. Er wusste z.B. nicht einmal, ob dieses Zimmer in der
gleichen Ebene, wie der Saal gelegen war. Klara hatte ihn auf dem
Herweg immer so gezogen, dass er sich gar nicht hatte umsehn können,
Herr Green und die Leuchter tragenden Diener hatten ihm auch zu
denken gegeben, kurz, er wusste jetzt tatsächlich nicht einmal ob
sie eine oder zwei oder vielleicht gar keine Treppe passiert hatten.
Nach der Aussicht zu schließen lag das Zimmer ziemlich hoch und er
suchte sich deshalb einzubilden, dass sie über Treppen gekommen
waren, aber schon zum Hauseingang hatte man ja über Treppen steigen
müssen, warum konnte nicht auch diese Seite des Hauses erhöht sein.
Aber wenn wenigstens auf dem Gang irgendwo ein Lichtschein aus einer
Tür zu sehen oder eine Stimme aus der Ferne auch noch so leise zu
hören gewesen wäre.
Seine
Taschenuhr, ein Geschenk des Onkels, zeigte elf Uhr, er nahm die
Kerze und ging auf den Gang hinaus. Die Tür ließ er offen, um für
den Fall, dass sein Suchen vergeblich wäre, wenigstens sein Zimmer
wiederzufinden und danach für den äußersten Notfall die Tür zu
Klaras Zimmer. Zur Sicherheit, damit sich die Türe nicht von selbst
schließe, verstellte er sie mit einem Sessel. Auf dem Gange zeigte
sich der Übelstand, dass gegen Josie — er ging natürlich von
Klaras Türe weg nach links zu — ein Luftzug strich, der zwar ganz
schwach war, aber immerhin leicht die Kerze hätte auslöschen
können, so dass Josie die Flamme mit der Hand schützen und überdies
öfters stehen bleiben musste, damit die niedergedrückte Flamme sich
erhole. Es war ein langsames Vorwärtskommen und der Weg schien
dadurch doppelt lang.
Josie
war schon an großen Strecken der Wände vorüber gekommen, die
gänzlich ohne Türen waren, man konnte sich nicht vorstellen, was
dahinter war. Dann kam wieder Tür an Tür, er versuchte mehrere zu
öffnen, sie waren versperrt und die Räume offenbar unbewohnt. Es
war eine Raumverschwendung sondergleichen und Josie dachte an die
östlichen New Yorker Quartiere, die ihm der Onkel zu zeigen
versprochen hatte, wo angeblich in einem kleinen Zimmer mehrere
Familien wohnten und das Heim einer Familie in einem Zimmerwinkel
bestand, in dem sich die Kinder um ihre Eltern scharten. Und hier
standen so viele Zimmer leer und waren nur dazu da, um hohl zu
klingen, wenn man an die Türe schlug. Herr Pollunder schien Josie
irregeführt zu sein von falschen Freunden, und vernarrt in seine
Tochter und dadurch verdorben. Der Onkel hatte ihn sicher richtig
beurteilt und nur sein Grundsatz, auf die Menschenbeurteilung Josies
keinen Einfluss zu nehmen, war schuld an diesem Besuch und an diesen
Wanderungen auf den Gängen. Josie wollte das morgen dem Onkel ohne
weiters sagen, denn nach seinem Grundsatz würde der Onkel auch das
Urteil des Neffen über ihn gerne und ruhig anhören. Überdies war
dieser Grundsatz vielleicht das einzige, was Josie an seinem Onkel
nicht gefiel und selbst dieses Nichtgefallen war nicht unbedingt.
Plötzlich
hörte die Wand an der einen Gangseite auf und ein eiskaltes,
marmornes Geländer trat an ihre Stelle. Josie stellte die Kerze
neben sich und beugte sich vorsichtig hinüber. Dunkle Leere wehte
ihm entgegen. Wenn das die Haupthalle des Hauses war — im Schimmer
der Kerze erschien ein Stück einer gewölbeartig geführten Decke —
warum war man nicht durch diese Halle eingetreten? Wozu diente nur
dieser große tiefe Raum? Man stand ja hier oben wie auf der Galerie
einer Kirche. Josie bedauerte fast, nicht bis morgen in diesem Hause
bleiben zu können, er hätte gern bei Tageslicht von Herrn Pollunder
sich überall herumführen und über alles unterrichten lassen.
Das
Geländer war übrigens nicht lang und bald wurde Josie wieder vom
geschlossenen Gang aufgenommen. Bei einer plötzlichen Wendung des
Ganges stieß Josie mit ganzer Wucht an die Mauer und nur die
ununterbrochene Sorgfalt, mit der er die Kerze krampfhaft hielt,
bewahrte sie glücklicherweise vor dem Fallen und Auslöschen. Da der
Gang kein Ende nehmen wollte, nirgends ein Fenster einen Ausblick
gab, weder in der Höhe noch in der Tiefe sich etwas rührte, dachte
Josie schon daran, er gehe immerfort im gleichen Kreisgang in der
Runde und hoffte schon, die offene Türe seines Zimmers vielleicht
wieder zu finden, aber weder sie noch das Geländer kehrte wieder.
Bis jetzt hatte sich Josie von lautem Rufen zurückgehalten, denn er
wollte in einem fremden Haus zu so später Stunde keinen Lärm
machen, aber jetzt sah er ein, dass es in diesem unbeleuchteten Hause
kein Unrecht war und machte sich gerade daran, nach beiden Seiten des
Ganges ein lautes Hallo zu schreien, als er in der Richtung, aus der
er gekommen war, ein kleines sich näherndes Licht bemerkte. Jetzt
konnte er erst die Länge des geraden Ganges abschätzen, das Haus
war eine Festung, keine Villa. Josies Freude über dieses rettende
Licht war so groß, dass er alle Vorsicht vergaß, und darauf zulief,
schon bei den ersten Sprüngen löschte seine Kerze aus. Er achtete
nicht darauf, denn er brauchte sie nicht mehr, hier kam ihm ein alter
Diener mit einer Laterne entgegen, der ihm den richtigen Weg schon
zeigen würde.
"Wer
sind Sie?" fragte der Diener und hielt Josie die Laterne ans
Gesicht, wodurch er gleichzeitig sein eigenes beleuchtete. Sein
Gesicht erschien etwas steif durch einen großen, weißen Vollbart,
der erst auf der Brust in seidenartige Ringel ausging.
Es
muss ein treuer Diener sein, dem man das Tragen eines solchen Bartes
erlaubt, dachte Josie und sah diesen Bart unverwandt der Länge und
Breite nach an, ohne sich dadurch behindert zu fühlen, dass er
selbst beobachtet wurde. Im Übrigen antwortete er sofort, dass er
der Gast des Herrn Pollunder sei, aus seinem Zimmer in das
Speisezimmer gehen wolle und es nicht finden könne. "Ach so",
sagte der Diener, "wir haben das elektrische Licht noch nicht
eingeführt." "Ich weiß", sagte Josie. "Wollen
Sie sich nicht ihre Kerze an meiner Lampe anzünden?" fragte der
Diener. "Bitte", sagte Josie und tat es. "Es zieht
hier so auf den Gängen", sagte der Diener, "die Kerze
löscht leicht aus, darum habe ich eine Laterne." "Ja, eine
Laterne ist viel praktischer", sagte Josie. "Sie sind auch
schon von der Kerze ganz betropft", sagte der Diener und
leuchtete mit der Kerze Josies Anzug ab. "Das habe ich ja gar
nicht bemerkt", rief Josie und es tat ihm sehr leid, da es ein
schwarzer Anzug war, von dem der Onkel gesagt hatte, er passe ihm am
besten von allen. Die Rauferei mit Klara dürfte dem Anzug auch nicht
genützt haben, erinnerte er sich jetzt. Der Diener war gefällig
genug, den Anzug zu reinigen, so gut es in der Eile ging; immer
wieder drehte sich Josie vor ihm herum und zeigte ihm noch hier und
dort einen Flecken, den der Diener folgsam entfernte. "Warum
zieht es denn hier eigentlich so?" fragte Josie, als sie schon
weiter gingen. "Es ist hier eben noch viel zu bauen", sagte
der Diener, "man hat zwar mit dem Umbau schon angefangen, aber
es geht sehr langsam. Jetzt streiken auch noch die Bauarbeiter, wie
Sie vielleicht wissen. Man hat viel Ärger mit so einem Bau. Jetzt
sind da paar große Durchbrüche gemacht worden, die niemand
vermauert und die Zugluft geht durch das ganze Haus. Wenn ich nicht
die Ohren voll Watte hätte, könnte ich nicht bestehn." "Da
muss ich wohl lauter reden?" fragte Josie. "Nein, Sie haben
eine klare Stimme", sagte der Diener. "Aber um auf diesen
Bau zurückzukommen, besonders hier in der Nähe der Kapelle, die
später unbedingt von dem übrigen Haus abgesperrt werden muss, ist
die Zugluft gar nicht auszuhalten." "Die Brüstung, an der
man in diesem Gang vorüber kommt, geht also in eine Kapelle hinaus?"
"Ja." "Das habe ich mir gleich gedacht", sagte
Josie. "Sie ist sehr sehenswert", sagte der Diener, "wäre
sie nicht gewesen, hätte wohl Herr Mack das Haus nicht gekauft."
"Herr Mack?" fragte Josie, "ich dachte, das Haus
gehöre Herrn Pollunder." "Allerdings", sagte der
Diener, "aber Herr Mack hat doch bei diesem Kauf den Ausschlag
gegeben. Sie kennen Herrn Mack nicht?" "Oh ja", sagte
Josie. "Aber in welcher Verbindung ist er denn mit Herrn
Pollunder?" "Er ist der Bräutigam des Fräuleins",
sagte der Diener. "Das wusste ich freilich nicht", sagte
Josie und blieb stehn. "Setzt Sie das in solches Erstaunen?"
fragte der Diener. "Ich will es nur mir zurechtlegen. Wenn man
solche Beziehungen nicht kennt, kann man ja die größten Fehler
machen", antwortete Josie. "Es wundert mich nur, dass man
Ihnen davon nichts gesagt hat", sagte der Diener. "Ja
wirklich", sagte Josie beschämt. "Wahrscheinlich dachte
man, Sie wüssten es", sagte der Diener, "es ist ja keine
Neuigkeit. Hier sind wir übrigens", und er öffnete eine Tür,
hinter der sich eine Treppe zeigte, die senkrecht zu der Hintertüre
des ebenso wie bei der Ankunft hell beleuchteten Speisezimmers
führte. Ehe Josie in das Speisezimmer eintrat, aus dem man die
Stimmen Herrn Pollunders und Herrn Greens unverändert wie vor nun
wohl schon zwei Stunden hörte, sagte der Diener: "Wenn Sie
wollen, erwarte ich Sie hier und führe Sie dann in Ihr Zimmer. Es
macht immerhin Schwierigkeiten, sich gleich am ersten Abend hier
auszukennen." "Ich werde nicht mehr in mein Zimmer zurück
gehn", sagte Josie und wusste nicht, warum er bei dieser
Auskunft traurig wurde. "Es wird nicht so arg sein", sagte
der Diener ein wenig überlegen lächelnd und klopfte ihm auf den
Arm. Er hatte sich wahrscheinlich Josies Worte dahin erklärt, dass
Josie beabsichtige, während der ganzen Nacht im Speisezimmer zu
bleiben, sich mit den Herren zu unterhalten und mit ihnen zu trinken.
Josie wollte jetzt keine Bekenntnisse machen, außerdem dachte er,
der Diener, der ihm besser gefiel als die andern hiesigen Diener,
könne ihm ja dann die Wegrichtung nach New York zeigen und sagte
deshalb: "Wenn Sie hier warten wollen, so ist das sicherlich
eine große Freundlichkeit von Ihnen und ich nehme sie dankbar an.
Jedenfalls werde ich in einer kleinen Weile herauskommen und Ihnen
dann sagen, was ich weiter tun werde. Ich denke schon, dass mir ihre
Hilfe noch nötig sein wird." "Gut", sagte der Diener,
stellte die Laterne auf den Boden und setzte sich auf ein niedriges
Postament, dessen Leere wahrscheinlich auch mit dem Umbau des Hauses
zusammenhing, "ich werde also hier warten." "Die Kerze
können Sie auch bei mir lassen", sagte der Diener noch, als
Josie mit der brennenden Kerze in den Saal gehen wollte. "Ich
bin aber zerstreut", sagte Josie und reichte die Kerze dem
Diener hin, welcher ihm bloß zunickte, ohne dass man wusste, ob er
es mit Absicht tat oder ob es eine Folge dessen war, dass er mit der
Hand seinen Bart strich.
Josie
öffnete die Tür, die ohne seine Schuld laut erklirrte, denn sie
bestand aus einer einzigen Glasplatte, die sich fast bog, wenn die
Tür rasch geöffnet und nur an der Klinke fest gehalten wurde. Josie
ließ die Tür erschrocken los, denn er hatte gerade besonders still
eintreten wollen. Ohne sich mehr umzudrehn, merkte er noch, wie
hinter ihm der Diener, der offenbar von seinem Postament
herabgestiegen war, vorsichtig und ohne das geringste Geräusch die
Türe schloss. "Verzeihen Sie, dass ich störe", sagte er
zu den beiden Herren, die ihn mit ihren großen, erstaunten
Gesichtern ansahen. Gleichzeitig aber überflog er mit einem Blick
den Saal, ob er nicht irgendwo schnell seinen Hut finden könne. Er
war aber nirgends zu sehn, der Esstisch war völlig abgeräumt,
vielleicht war der Hut unangenehmer Weise irgendwie in die Küche
fort getragen worden. "Wo haben Sie denn Klara gelassen?"
fragte Herr Pollunder, dem übrigens die Störung nicht unlieb
schien, denn er setzte sich gleich anders in seinem Fauteuil und
kehrte Josie seine ganze Front zu. Herr Green spielte den
Unbeteiligten, zog eine Brieftasche heraus, die an Größe und Dicke
ein Ungeheuer ihrer Art war, schien in den vielen Taschen ein
bestimmtes Stück zu suchen, las aber während des Suchens auch
andere Papiere, die ihm gerade in die Hand kamen. "Ich hätte
eine Bitte, die Sie nicht missverstehen dürfen", sagte Josie,
ging eiligst zu Herrn Pollunder hin und legte, um ihm recht nahe zu
sein, die Hand auf die Armlehne des Fauteuils. "Was soll denn
das für eine Bitte sein?" fragte Herr Pollunder und sah Josie
mit offenem, rückhaltlosem Blicke an. "Sie ist natürlich schon
erfüllt." Und er legte den Arm um Josie und zog ihn zu sich
zwischen seine Beine. Josie duldete das gerne, trotzdem er sich im
Allgemeinen doch für eine solche Behandlung allzu erwachsen fühlte.
Aber das Aussprechen seiner Bitte wurde natürlich schwieriger. "Wie
gefällt es Ihnen denn eigentlich bei uns?" fragte Herr
Pollunder. "Scheint es Ihnen nicht auch, dass man auf dem Lande
sozusagen befreit wird, wenn man aus der Stadt herkommt. Im
allgemeinen" — und ein nicht misszuverstehender, durch Josie
etwas verdeckter Seitenblick ging auf Herrn Green — "im
Allgemeinen habe ich dieses Gefühl immer wieder, jeden Abend."
"Er spricht", dachte Josie, "als wüsste er nicht von
dem großen Haus, den endlosen Gängen, der Kapelle, den leeren
Zimmern, dem Dunkel überall." "Nun!" sagte Herr
Pollunder. "Die Bitte!" und er schüttelte Josie
freundschaftlich, der stumm dastand. "Ich bitte", sagte
Josie und so sehr er die Stimme dämpfte, es ließ sich nicht
vermeiden, dass der daneben sitzende Green alles hörte, vor dem
Josie die Bitte, die möglicherweise als eine Beleidigung Pollunders
aufgefasst werden konnte, so gern verschwiegen hätte — "ich
bitte, lassen Sie mich noch jetzt, in der Nacht, nach Hause."
Und da das Ärgste ausgesprochen war, drängte alles andere umso
schneller nach, er sagte, ohne die geringste Lüge zu gebrauchen,
Dinge an die er gar nicht eigentlich vorher gedacht hatte. "Ich
möchte um alles gerne nach Hause. Ich werde gerne wiederkommen, denn
wo Sie, Herr Pollunder, sind, dort bin ich auch gerne. Nur heute kann
ich nicht hier bleiben. Sie wissen, der Onkel hat mir die Erlaubnis
zu diesem Besuch nicht gerne gegeben. Er hat sicher dafür seine
guten Gründe gehabt, wie für alles, was er tut, und ich habe es mir
herausgenommen, gegen seine bessere Einsicht die Erlaubnis förmlich
zu erzwingen. Ich habe seine Liebe zu mir einfach missbraucht. Was
für Bedenken er gegen diesen Besuch hatte, ist ja jetzt
gleichgültig, ich weiß bloß ganz bestimmt, dass nichts in diesen
Bedenken war, was Sie, Herr Pollunder, kränken könnte, der Sie der
beste, der allerbeste Freund meines Onkels sind. Kein anderer kann
sich in der Freundschaft meines Onkels auch nur im Entferntesten mit
Ihnen vergleichen. Das ist ja auch die einzige Entschuldigung für
meine Unfolgsamkeit, aber keine genügende. Sie haben vielleicht
keinen genauen Einblick in das Verhältnis zwischen meinem Onkel und
mir, ich will daher nur von dem Einleuchtendsten sprechen. Solange
meine Englischstudien nicht abgeschlossen sind und ich mich im
praktischen Handel nicht genügend umgesehen habe, bin ich gänzlich
auf die Güte meines Onkels angewiesen, die ich allerdings als
Blutsverwandter genießen darf. Sie dürfen nicht glauben, dass ich
schon jetzt irgendwie mein Brot anständig — und vor allem andern
soll mich Gott bewahren — verdienen könnte. Dazu ist leider meine
Erziehung zu unpraktisch gewesen. Ich habe vier Klassen eines
europäischen Gymnasiums als Durchschnittsschüler durchgemacht und
das bedeutet für den Gelderwerb viel weniger als nichts, denn unsere
Gymnasien sind im Lehrplan sehr rückschrittlich. Sie würden lachen,
wenn ich Ihnen erzählen wollte, was ich gelernt habe. Wenn man
weiter studiert, das Gymnasium zu Ende macht, an die Universität
geht, dann gleicht sich ja wahrscheinlich alles irgendwie aus und man
hat zum Schluss eine geordnete Bildung, mit der sich etwas anfangen
lässt und die einem die Entschlossenheit zum Gelderwerb gibt. Ich
aber bin aus diesem zusammenhängenden Studium leider herausgerissen
worden, manchmal glaube ich, ich weiß gar nichts, und schließlich
wäre auch alles, was ich wissen könnte, für Amerika noch immer zu
wenig. Jetzt werden in meiner Heimat neuestens hier und da
Reformgymnasien eingerichtet, wo man auch moderne Sprachen und
vielleicht auch Handelswissenschaften lernt, als ich aus der
Volksschule trat, gab es das noch nicht. Mein Vater wollte mich zwar
im Englischen unterrichten lassen, aber erstens konnte ich damals
nicht ahnen, was für ein Unglück über mich kommen wird, und wie
ich das Englische brauchen werde, und zweitens musste ich für das
Gymnasium viel lernen, so dass ich für andere Beschäftigungen nicht
besonders viel Zeit hatte. — Ich erwähne das alles, um Ihnen zu
zeigen, wie abhängig ich von meinem Onkel bin und wie verpflichtet
infolgedessen ich ihm gegenüber auch bin. Sie werden sicher zugeben,
dass ich es mir bei solchen Verhältnissen nicht erlauben darf, auch
nur das geringste gegen seinen auch nur geahnten Willen zu tun. Und
darum muss ich, um den Fehler den ich ihm gegenüber begangen habe,
nur halbwegs wieder gut zu machen, sofort nachhause gehn."
Während dieser langen Rede Josies hatte Herr Pollunder aufmerksam
zugehört, öfters, besonders wenn der Onkel erwähnt wurde, Josie
wenn auch unmerklich an sich gedrückt und einige Male ernst und wie
erwartungsvoll zu Green hinüber gesehn, der sich weiterhin mit
seiner Brieftasche beschäftigte. Josie aber war, je deutlicher ihm
seine Stellung zum Onkel im Laufe seiner Rede zu Bewusstsein kam,
immer unruhiger geworden, hatte sich unwillkürlich aus dem Arm
Pollunders zu drängen gesucht, alles beengte ihn hier, der Weg zum
Onkel durch die Glastüre, über die Treppe, durch die Allee, über
die Landstraßen, durch die Vorstädte zur großen Verkehrsstraße,
einmündend in des Onkels Haus, erschien ihm als etwas streng
Zusammengehöriges, das leer, glatt und für ihn vorbereitet da lag
und mit einer starken Stimme nach ihm verlangte. Herrn Pollunders
Güte und Herrn Greens Abscheulichkeit verschwammen und er wollte aus
diesem rauchigen Zimmer nichts anderes für sich haben, als die
Erlaubnis zum Abschied nehmen. Zwar fühlte er sich gegen Herrn
Pollunder abgeschlossen, gegen Herrn Green kampfbereit und doch
erfüllte ihn rings herum eine unbestimmte Furcht, deren Stöße
seine Augen trübten.
Er
trat einen Schritt zurück und stand nun gleich weit von Herrn
Pollunder und von Herrn Green entfernt. "Wollten Sie ihm nicht
etwas sagen?" fragte Herr Pollunder Herrn Green und fasste wie
bittend Herrn Greens Hand. "Ich wüsste nichts, was ich ihm
sagen sollte?" sagte Herr Green, der endlich einen Brief aus
seiner Tasche gezogen und vor sich auf den Tisch gelegt hatte. "Es
ist recht lobenswert, dass er zu seinem Onkel zurückkehren will, und
nach menschlicher Voraussicht sollte man glauben, dass er dem Onkel
eine besondere Freude damit machen wird. Es müsste denn sein, dass
er durch seine Unfolgsamkeit den Onkel schon allzu böse gemacht hat,
was ja auch möglich ist. Dann allerdings wäre es besser, er bliebe
hier. Es ist eben schwer, etwas Bestimmtes zu sagen, wir sind zwar
beide Freunde des Onkels und es dürfte Mühe machen zwischen meiner
und Herrn Pollunders Freundschaft Rangunterschiede zu erkennen, aber
in das Innere des Onkels können wir nicht hineinschauen und ganz
besonders nicht über die vielen Kilometer hinweg, die uns hier von
New York trennen." "Bitte, Herr Green", sagte Josie
und näherte sich mit Selbstüberwindung Herrn Green, "ich höre
aus ihren Worten heraus, dass Sie es auch für das Beste halten, wenn
ich gleich zurückkehre." "Das habe ich durchaus nicht
gesagt", meinte Herr Green und vertiefte sich in das Anschauen
des Briefes, an dessen Rändern er mit zwei Fingern hin und her fuhr.
Er schien damit andeuten zu wollen, dass er von Herrn Pollunder
gefragt worden sei, ihm auch geantwortet habe, während er mit Josie
eigentlich nichts zu tun habe.
Inzwischen
war Herr Pollunder zu Josie getreten und hatte ihn sanft von Herrn
Green weg zu einem der großen Fenster gezogen. "Lieber Herr
Rossmann", sagte er zu Josies Ohr herab gebeugt und wischte zur
Vorbereitung mit dem Taschentuch über sein Gesicht und bei der Nase
innehaltend schnäuzte er, "Sie werden doch nicht glauben, dass
ich Sie gegen ihren Willen hier zurückhalten will. Davon ist ja
keine Rede. Das Automobil kann ich Ihnen zwar nicht zur Verfügung
stellen, denn es steht weit von hier in einer öffentlichen Garage,
da ich noch keine Zeit hatte, hier, wo alles erst im Werden ist, eine
eigene Garage einzurichten. Der Chauffeur wiederum schläft nicht
hier im Haus, sondern in der Nähe der Garage, ich weiß wirklich
selbst nicht wo. Außerdem ist es gar nicht seine Pflicht, jetzt
zuhause zu sein, seine Pflicht ist es nur, früh zur rechten Zeit
hier vorzufahren. Aber das alles wären keine Hindernisse für ihre
augenblickliche Heimkehr, denn wenn Sie darauf bestehn, begleite ich
Sie sofort zur nächsten Station der Stadtbahn, die allerdings so
weit entfernt ist, dass Sie nicht viel früher zuhause ankommen
dürften, als wenn Sie früh — wir fahren ja schon um sieben Uhr —
mit mir in meinem Automobil fahren wollen." "Da möchte
ich, Herr Pollunder, doch lieber mit der Stadtbahn fahren",
sagte Josie. "An die Stadtbahn habe ich gar nicht gedacht. Sie
sagen selbst, dass ich mit der Stadtbahn früher ankomme, als früh
mit dem Automobil." "Es ist aber ein ganz kleiner
Unterschied." "Trotzdem, trotzdem, Herr Pollunder",
sagte Josie, "ich werde in Erinnerung an ihre Freundlichkeit
immer gerne herkommen, vorausgesetzt natürlich, dass Sie mich nach
meinem heutigen Benehmen noch einladen wollen, und vielleicht werde
ich es nächstens besser ausdrücken können, warum heute jede
Minute, um die ich meinen Onkel früher sehe, für mich so wichtig
ist." Und als hätte er bereits die Erlaubnis zum Weggehn
erhalten, fügte er hinzu: "Aber keinesfalls dürfen Sie mich
begleiten. Es ist auch ganz unnötig. Draußen ist ein Diener, der
mich gern zur Station begleiten wird. Jetzt muss ich nur noch meinen
Hut suchen." Und bei den letzten Worten durchschritt er schon
das Zimmer, um noch in Eile einen letzten Versuch zu machen, ob sein
Hut doch vielleicht zu finden wäre. "Könnte ich Ihnen nicht
mit einer Mütze aushelfen", sagte Herr Green und zog eine Mütze
aus der Tasche, "vielleicht passt sie ihnen zufällig."
Verblüfft blieb Josie stehn und sagte: "Ich werde Ihnen doch
nicht ihre Mütze wegnehmen. Ich kann ja ganz gut mit unbedecktem
Kopf gehn. Ich brauche gar nichts." "Es ist nicht meine
Mütze. Nehmen Sie nur!" "Dann danke ich", sagte
Josie, um sich nicht aufzuhalten, und nahm die Mütze. Er zog sie an
und lachte zuerst, da sie ganz genau passte, nahm sie wieder in die
Hand und betrachtete sie, konnte aber das Besondere, das er an ihr
suchte, nicht finden; es war eine vollkommen neue Mütze. "Sie
passt so gut!" sagte er. "Also, sie passt!" rief Herr
Green und schlug auf den Tisch.
Josie
ging schon zur Tür zu, um den Diener zu holen, da erhob sich Herr
Green, streckte sich nach dem reichlichen Mahl und der vielen Ruhe,
klopfte stark gegen seine Brust und sagte in einem Ton zwischen Rat
und Befehl: "Ehe Sie weg gehn, müssen Sie von Fräulein Klara
Abschied nehmen." "Das müssen Sie", sagte auch Herr
Pollunder, der ebenfalls aufgestanden war. Ihm hörte man es an, dass
die Worte nicht aus seinem Herzen kamen, schwach ließ er die Hände
an die Hosennaht schlagen und knöpfte immer wieder seinen Rock auf
und zu, der nach der augenblicklichen Mode ganz kurz war und kaum zu
den Hüften ging, was so dicke Leute wie Herrn Pollunder schlecht
kleidete. Übrigens hatte man, wenn er so neben Herrn Green stand,
den deutlichen Eindruck, dass es bei Herrn Pollunder keine gesunde
Dicke war, der Rücken war in seiner ganzen Masse etwas gekrümmt,
der Bauch sah weich und unhaltbar aus, eine wahre Last, und das
Gesicht erschien bleich und geplagt. Dagegen stand hier Herr Green,
vielleicht noch etwas dicker als Herr Pollunder, aber es war eine
zusammenhängende, einander gegenseitig tragende Dicke, die Füße
waren soldatisch zusammengeklappt, den Kopf trug er aufrecht und
schaukelnd, er schien ein großer Turner, ein Vorturner, zu sein.
"Gehen Sie also vorerst", fuhr Herr Green fort, "zu
Fräulein Klara. Das dürfte Ihnen sicher Vergnügen machen und passt
auch sehr gut in meine Zeiteinteilung. Ich habe Ihnen nämlich
tatsächlich, ehe Sie von hier fort gehn, etwas Interessantes zu
sagen, was wahrscheinlich auch für ihre Rückkehr entscheidend sein
kann. Nur bin ich leider durch höheren Befehl gebunden, Ihnen vor
Mitternacht nichts zu verraten. Sie können sich vorstellen, dass mir
das selbst Leid tut, denn es stört meine Nachtruhe, aber ich halte
mich an meinen Auftrag. Jetzt ist Viertel zwölf, ich kann also meine
Geschäfte noch mit Herrn Pollunder zu Ende besprechen, wobei ihre
Gegenwart nur stören würde und Sie können ein hübsches Weilchen
mit Fräulein Klara verbringen. Punkt zwölf Uhr stellen Sie sich
dann hier ein, wo Sie das Nötige erfahren werden."
Konnte
Josie diese Forderung ablehnen, die von ihm wirklich nur das
Geringste an Höflichkeit und Dankbarkeit gegenüber Herrn Pollunder
verlangte und die überdies ein sonst unbeteiligter, roher Mann
stellte, während Herr Pollunder, den es anging, sich mit Worten und
Blicken möglichst zurückhielt? Und was war jenes Interessante, das
er erst um Mitternacht erfahren durfte? Wenn es seine Heimkehr nicht
wenigstens um die dreiviertel Stunde beschleunigte, um die es sie
jetzt verschob, interessierte es ihn wenig. Aber sein größter
Zweifel war, ob er überhaupt zu Klara gehn konnte, die doch seine
Feindin war. Wenn er wenigstens das Schlageisen bei sich gehabt
hätte, das ihm sein Onkel als Briefbeschwerer geschenkt hatte. Das
Zimmer Klaras mochte ja eine recht gefährliche Höhle sein. Aber nun
war es ja ganz und gar unmöglich, hier gegen Klara das Geringste zu
sagen, da sie Pollunders Tochter und wie er jetzt gehört hatte gar
Macks Braut war. Sie hätte ja nur um eine Kleinigkeit anders sich zu
ihm verhalten müssen und er hätte sie wegen ihrer Beziehungen offen
bewundert. Noch überlegte er das alles, aber schon merkte er, dass
man keine Überlegungen von ihm verlangte, denn Green öffnete die
Tür und sagte zum Diener, der vom Postamente sprang: "Führen
Sie diesen jungen Mann zu Fräulein Klara."
"So
führt man Befehle aus", dachte Josie, als ihn der Diener fast
laufend, stöhnend vor Altersschwäche, auf einem besonders kurzen
Weg zu Klaras Zimmer zog. Als Josie an seinem Zimmer vorüber kam,
dessen Tür noch immer offen stand, wollte er, vielleicht zu seiner
Beruhigung, für einen Augenblick eintreten. Der Diener ließ das
aber nicht zu. "Nein", sagte er, "Sie müssen zu
Fräulein Klara. Sie haben es ja selbst gehört." "Ich
würde mich nur einen Augenblick drin aufhalten", sagte Josie
und er dachte daran, sich zur Abwechslung ein wenig auf das Kanapee
zu werfen, damit ihm die Zeit rascher gegen Mitternacht vorrücke.
"Erschweren Sie mir die Ausführung meines Auftrages nicht",
sagte der Diener. "Er scheint es für eine Strafe zu halten,
dass ich zu Fräulein Klara gehn muss", dachte Josie und machte
ein paar Schritte, blieb aber aus Trotz wieder stehn. "Kommen
Sie doch, junger Herr", sagte der Diener, "wenn Sie nun
schon einmal hier sind. Ich weiß, Sie wollten noch in der Nacht weg
gehn, es geht eben nicht alles nach Wunsch, ich habe es Ihnen ja
gleich gesagt, dass es kaum möglich sein wird." "Ja, ich
will weg gehn und werde auch weg gehn", sagte Josie, "und
will jetzt nur von Fräulein Klara Abschied nehmen." "So",
sagte der Diener und Josie sah ihm wohl an, dass er kein Wort davon
glaubte, "warum zögern Sie also Abschied zu nehmen, kommen Sie
doch."
"Wer
ist auf dem Gang?" ertönte Klaras Stimme und man sah sie aus
einer nahen Tür sich vorbeugen, eine große Tischlampe mit rotem
Schirm in der Hand. Der Diener eilte zu ihr hin und erstattete die
Meldung; Josie ging ihm langsam nach. "Sie kommen spät",
sagte Klara. Ohne ihr vorläufig zu antworten, sagte Josie zum Diener
leise, aber, da er seine Natur schon kannte, im Ton strengen
Befehles: "Sie warten auf mich knapp vor dieser Tür!" "Ich
wollte schon schlafen gehen", sagte Klara und stellte die Lampe
auf den Tisch. Wie unten im Speisezimmer schloss auch hier wieder der
Diener vorsichtig von außen die Tür. "Es ist ja schon halb
zwölf vorüber." "Halb zwölf vorüber", wiederholte
Josie fragend, wie erschrocken über diese Zahlen. "Dann muss
ich mich aber sofort verabschieden", sagte Josie, "denn
Punkt zwölf muss ich schon unten im Speisesaal sein." "Was
Sie für eilige Geschäfte haben", sagte Klara und ordnete
zerstreut die Falten ihres losen Nachtkleides, ihr Gesicht glühte
und immerfort lächelte sie. Josie glaubte zu erkennen, dass keine
Gefahr bestand, mit Klara wieder in Streit zu geraten. "Könnten
Sie nicht doch noch ein wenig Klavier spielen, wie es mir gestern
Papa und heute Sie selbst versprochen haben?" "Ists nicht
aber schon zu spät?" fragte Josie. Er hätte ihr gern gefällig
sein wollen, denn sie war ganz anders als vorher, so als wäre sie
irgendwie aufgestiegen, in die Kreise Pollunders und weiterhin Macks.
"Ja, spät ist es schon", sagte sie und es schien ihr die
Lust zur Musik schon vergangen zu sein. "Dann widerhallt hier
auch jeder Ton im ganzen Hause, ich bin überzeugt, wenn Sie spielen,
wacht noch oben in den Dachkammern die Dienerschaft auf." "Dann
lasse ich also das Spiel, ich hoffe ja bestimmt noch wiederzukommen,
übrigens, wenn es Ihnen keine besondere Mühe macht, besuchen Sie
doch einmal meinen Onkel und schauen bei der Gelegenheit auch in mein
Zimmer. Ich habe ein prachtvolles Piano. Der Onkel hat es mir
geschenkt. Dann spiele ich Ihnen, wenn es Ihnen recht ist, alle meine
Stückchen vor, es sind leider nicht viele, und sie passen auch gar
nicht zu so einem großen Instrument, auf dem nur Virtuosen sich
hören lassen sollten. Aber auch dieses Vergnügen werden Sie haben
können, wenn Sie mich von ihrem Besuch vorher verständigen, denn
der Onkel will nächstens einen berühmten Lehrer für mich
engagieren — Sie können sich denken, wie ich mich darauf freue —
und dessen Spiel wird allerdings dafür stehn, mir während der
Unterrichtsstunde einen Besuch zu machen. Ich bin, wenn ich ehrlich
sein soll, froh, dass es für das Spiel schon zu spät ist, denn ich
kann noch gar nichts, Sie würden staunen, wie wenig ich kann. Und
nun erlauben Sie, dass ich mich verabschiede, schließlich ist ja
doch schon Schlafenszeit. Und weil ihn Klara gütig ansah und ihm
wegen der Rauferei gar nichts nachzutragen schien, fügte er lächelnd
hinzu, während er ihr die Hand reichte: "In meiner Heimat
pflegt man zu sagen: Schlafe wohl und träume süß."
"Warten
Sie", sagte sie, ohne seine Hand anzunehmen, "vielleicht
sollten Sie doch spielen." Und sie verschwand durch eine kleine
Seitentür, neben der das Piano stand. "Was ist denn?"
dachte Josie, "lange kann ich nicht warten, so lieb sie auch
ist." Es klopfte an die Gangtüre und der Diener, der die Türe
nicht ganz zu öffnen wagte, flüsterte durch einen kleinen Spalt:
"Verzeihen Sie, ich wurde soeben abberufen und kann nicht mehr
warten." "Gehen Sie nur", sagte Josie, der sich nun
getraute, den Weg ins Speisezimmer allein zu finden, "lassen Sie
mir nur die Laterne vor der Tür. Wie spät ist es übrigens?"
"Bald dreiviertel zwölf", sagte der Diener. "Wie
langsam die Zeit vergeht", sagte Josie. Der Diener wollte schon
die Türe schließen, da erinnerte sich Josie, dass er ihm noch kein
Trinkgeld gegeben hatte, nahm einen Schilling aus der Hosentasche —
er trug jetzt immer Münzengeld nach amerikanischer Sitte lose
klingelnd in der Hosentasche, Banknoten dagegen in der Westentasche —
und reichte ihn dem Diener mit den Worten: "Für ihre guten
Dienste."
Klara
war schon wieder eingetreten, die Hände an ihrer festen Frisur, als
es Josie einfiel, dass er den Diener doch nicht hätte wegschicken
sollen, denn wer würde ihn jetzt zur Station der Stadtbahn führen?
Nun, da würde wohl schon Herr Pollunder einen Diener noch auftreiben
können, vielleicht war übrigens dieser Diener ins Speisezimmer
gerufen worden und würde dann zur Verfügung stehn. "Ich bitte
Sie also doch ein wenig zu spielen. Man hört hier so selten Musik,
dass man sich keine Gelegenheit sie zu hören entgehen lassen will."
"Dann ist es aber höchste Zeit", sagte Josie, ohne weitere
Überlegung und setzte sich gleich zum Klavier. "Wollen Sie
Noten haben?" fragte Klara. "Danke, ich kann ja Noten nicht
einmal vollkommen lesen", antwortete Josie und spielte schon. Es
war ein kleines Lied, das wie Josie wohl wusste, ziemlich langsam
hätte gespielt werden müssen, um besonders für Fremde auch nur
verständlich zu sein, aber er hudelte es im ärgsten Marschtempo
hinunter. Nach der Beendigung fuhr die gestörte Stille des Hauses
wie in großem Gedränge wieder an ihren Platz. Man saß wie benommen
da und rührte sich nicht. "Ganz schön", sagte Klara, aber
es gab keine Höflichkeitsformel, die Josie nach diesem Spiel hätte
schmeicheln können. "Wie spät ist es?" fragte er.
"Dreiviertel zwölf." "Dann habe ich noch ein Weilchen
Zeit", sagte er und dachte bei sich: "Entweder oder. Ich
muss ja nicht alle zehn Lieder spielen, die ich kann, aber eines kann
ich nach Möglichkeit gut spielen." Und er fing sein geliebtes
Soldatenlied an. So langsam, dass das aufgestörte Verlangen des
Zuhörers sich nach der nächsten Note streckte, die Josie
zurückhielt und nur schwer hergab. Er musste ja tatsächlich wie bei
jedem Lied die nötigen Tasten mit den Augen erst zusammensuchen,
aber außerdem fühlte er in sich ein Leid entstehn, das über das
Ende des Liedes hinaus, ein anderes Ende suchte und es nicht finden
konnte. "Ich kann ja nichts", sagte Josie nach Schluss des
Liedes und sah Klara mit Tränen in den Augen an.
Da
ertönte aus dem Nebenzimmer lautes Hände klatschen. "Es hört
noch jemand zu!" rief Josie aufgerüttelt. "Mack",
sagte Klara leise. Und schon hörte man Mack rufen: "Josie
Rossmann, Josie Rossmann!"
Josie
schwang sich mit beiden Füßen zugleich über die Klavierbank und
öffnete die Tür. Er sah dort Mack in einem großen Himmelbett halb
liegend sitzen, die Bettdecke war lose über die Beine geworfen. Der
Baldachin aus blauer Seide war die einzige ein wenig mädchenhafte
Pracht des sonst einfachen, aus schwerem Holz eckig gezimmerten
Bettes. Auf dem Nachttischchen brannte nur eine Kerze, aber die
Bettwäsche und Macks Hemd waren so weiß, dass das auf sie fallende
Kerzenlicht in fast blendendem Widerschein von ihnen strahlte; auch
der Baldachin leuchtete wenigstens am Rande mit seiner leicht
gewellten, nicht ganz fest gespannten Seide. Gleich hinter Mack
versank aber das Bett und alles in vollständigem Dunkel. Klara
lehnte sich an den Bettpfosten und hatte nur noch Augen für Mack.
"Servus", sagte Mack und reichte Josie die Hand. "Sie
spielen ja recht gut, bisher habe ich bloß ihre Reitkunst gekannt."
"Ich kann das eine so schlecht wie das andere", sagte
Josie. "Wenn ich gewusst hätte, dass Sie zuhören, hätte ich
bestimmt nicht gespielt. Aber ihr Fräulein" — er unterbrach
sich, er zögerte "Braut" zu sagen, da Mack und Klara
offenbar schon miteinander schliefen. "Ich ahnte es ja",
sagte Mack, "darum musste Sie Klara aus New York hierher locken,
sonst hätte ich ihr Spiel gar nicht zu hören bekommen. Es ist ja
reichlich anfängerhaft und selbst in diesen Liedern, die Sie doch
eingeübt hatten und die sehr primitiv gesetzt sind, haben Sie einige
Fehler gemacht, aber immerhin hat es mich sehr gefreut, ganz
abgesehen davon, dass ich das Spiel keines Menschen verachte. Wollen
Sie sich aber nicht setzen und noch ein Weilchen bei uns bleiben.
Klara gib ihm doch einen Sessel." "Ich danke", sagte
Josie stockend. "Ich kann nicht bleiben, so gern ich hier
bliebe. Zu spät erfahre ich, dass es so wohnliche Zimmer in diesem
Hause gibt." "Ich baue alles in dieser Art um", sagte
Mack.
In
diesem Augenblick erklangen zwölf Glockenschläge, rasch
hintereinander, einer in den Lärm des andern drein schlagend, Josie
fühlte das Wehen der großen Bewegung dieser Glocken an den Wangen.
Was war das für ein Dorf, das solche Glocken hatte!
"Höchste
Zeit", sagte Josie, streckte Mack und Klara nur die Hände hin,
ohne sie zu fassen, und lief auf den Gang hinaus. Dort fand er die
Laterne nicht und bedauerte dem Diener zu bald das Trinkgeld gegeben
zu haben. Er wollte sich an der Wand zu der offenen Türe seines
Zimmers hin tasten, war aber kaum in der Hälfte des Weges, als er
Herrn Green mit erhobener Kerze eilig heran schwanken sah. In der
Hand, in der er die Kerze hielt, trug er auch einen Brief. "Rossmann,
warum kommen Sie denn nicht? Warum lassen Sie mich warten? Was haben
Sie denn bei Fräulein Klara getrieben?" "Viele Fragen!"
dachte Josie, "und jetzt drückt er mich noch an die Wand",
denn tatsächlich stand er dicht vor Josie, der mit dem Rücken an
der Wand lehnte. Green nahm in diesem Gang eine schon lächerliche
Größe an und Josie stellte sich zum Spaß die Frage, ob er nicht
etwa den guten Herrn Pollunder aufgefressen habe. "Sie sind
tatsächlich kein Mann von Wort. Versprechen um zwölf Uhr
hinunterzukommen und umschleichen statt dessen die Tür Fräulein
Klaras. Ich dagegen habe Ihnen für Mitternacht etwas Interessantes
versprochen und bin damit schon da." Und damit reichte er Josie
den Brief. Auf dem Umschlag stand "An Josie Rossmann. Um
Mitternacht persönlich abzugeben, wo immer er angetroffen wird."
"Schließlich", sagte Herr Green, während Josie den Brief
öffnete, "ist es, glaube ich, schon anerkennenswert, dass ich
ihretwegen aus New York hierher gefahren bin, so dass Sie mich
durchaus nicht noch auf den Gängen Ihnen nachlaufen lassen müssten."
"Vom Onkel!" sagte Josie kaum, dass er in den Brief hinein
geschaut hatte. "Ich habe es erwartet", sagte er zu Herrn
Green gewendet. "Ob Sie es erwartet haben oder nicht, ist mir
kolossal gleichgültig. Lesen Sie nur schon", sagte dieser und
hielt Josie die Kerze hin.
Josie
las bei ihrem Licht: "Geliebter Neffe! Wie du während unseres
leider viel zu kurzen Zusammenlebens schon erkannt haben wirst, bin
ich durchaus ein Mann von Prinzipien. Das ist nicht nur für meine
Umgebung, sondern auch für mich sehr unangenehm und traurig, aber
ich verdanke meinen Prinzipien alles, was ich bin, und niemand darf
verlangen, dass ich mich vom Erdboden weg leugne, niemand, auch du
nicht, mein geliebter Neffe, wenn auch du gerade der erste in der
Reihe wärest, wenn es mir einmal einfallen sollte, jenen allgemeinen
Angriff gegen mich zuzulassen. Dann würde ich am liebsten gerade
dich mit diesen beiden Händen, mit denen ich das Papier halte und
beschreibe, auffangen und hoch heben. Da aber vorläufig gar nichts
darauf hindeutet, dass dies einmal geschehen könnte, muss ich dich
nach dem heutigen Vorfall unbedingt von mir fort schicken und ich
bitte dich dringend, mich weder selbst aufzusuchen, noch brieflich
oder durch Zwischenträger Verkehr mit mir zu suchen. Du hast dich
gegen meinen Willen dafür entschieden, heute Abend von mir fort zu
gehn, dann bleibe aber auch bei diesem Entschluss dein Leben lang,
nur dann war es ein männlicher Entschluss. Ich erwählte zum
Überbringer dieser Nachricht Herrn Green, meinen besten Freund, der
sicherlich für dich genug schonende Worte finden wird, die mir im
Augenblick tatsächlich nicht zur Verfügung stehn. Er ist ein
einflussreicher Mann und wird dich schon mir zu Liebe in deinen
ersten selbstständigen Schritten mit Rat und Tat unterstützen. Um
unsere Trennung zu begreifen, die mir jetzt am Schlusse dieses
Briefes wieder unfasslich scheint, muss ich mir immer wieder
neuerlich sagen: Von deiner Familie, Josie, kommt nichts Gutes.
Sollte Herr Green vergessen, dir deinen Koffer und deinen Regenschirm
auszuhändigen, so erinnere ihn daran. Mit besten Wünschen für dein
weiteres Wohlergehn,
dein
treuer Onkel Jakob."
"Sind
Sie fertig?" fragte Green. "Ja", sagte Josie, "haben
Sie mir den Koffer und den Regenschirm mitgebracht?" fragte
Josie. "Hier ist er", sagte Green und stellte Josies alten
Reisekoffer, den er bisher mit der linken Hand hinter dem Rücken
versteckt hatte, neben Josie auf den Boden. "Und den
Regenschirm?" fragte Josie weiter. "Alles hier", sagte
Green und zog auch den Regenschirm hervor, den er in einer
Hosentasche hängen hatte. "Die Sachen hat ein gewisser Schubal,
ein Obermaschinist der Hamburg-Amerikalinie gebracht, er hat
behauptet, sie auf dem Schiff gefunden zu haben. Sie können ihm bei
Gelegenheit danken." "Nun habe ich wenigstens meine alten
Sachen wieder", sagte Josie und legte den Schirm auf den Koffer.
"Sie sollen aber besser in Zukunft auf sie Acht geben, lässt
Ihnen der Herr Senator sagen", bemerkte Herr Green und fragte
dann offenbar aus privater Neugierde: "Was ist das eigentlich
für ein merkwürdiger Koffer?" "Es ist ein Koffer, mit dem
die Soldaten in meiner Heimat zum Militär einrücken",
antwortete Josie, "es ist der alte Militärkoffer meines Vaters.
Er ist sonst ganz praktisch." Lächelnd fügte er hinzu:
"Vorausgesetzt dass man ihn nicht irgendwo stehn lässt."
"Schließlich sind Sie ja belehrt genug", sagte Herr Green,
"und einen zweiten Onkel haben Sie in Amerika wohl nicht. Hier
gebe ich ihnen noch eine Karte Dritter nach San Francisco. Ich habe
diese Reise für Sie beschlossen, weil erstens die
Erwerbsmöglichkeiten im Westen für Sie viel bessere sind und weil
zweitens hier in allen Dingen, die für Sie in Betracht kommen
könnten, ihr Onkel seine Hände im Spiele hat und ein
Zusammentreffen unbedingt vermieden werden muss. In Frisco können
Sie ganz ungestört arbeiten, fangen Sie nur ruhig ganz unten an und
versuchen Sie, sich allmählich herauf zu arbeiten."
Josie
konnte keine Bosheit aus diesen Worten heraushören, die schlimme
Nachricht, welche den ganzen Abend in Green gesteckt hatte, war
überbracht und von nun an schien Green ein ungefährlicher Mann, mit
dem man vielleicht offener reden konnte, als mit jedem andern. Der
beste Mensch, der ohne eigene Schuld zum Boten einer so geheimen und
quälenden Entschließung auserwählt wird, muss, solange er sie bei
sich hält, verdächtig scheinen. "Ich werde", sagte Josie,
die Bestätigung eines erfahrenen Mannes erwartend, "dieses Haus
sofort verlassen, denn ich bin nur als Neffe meines Onkels
aufgenommen, während ich als Fremder hier nichts zu suchen habe.
Würden Sie so liebenswürdig sein, mir den Ausgang zu zeigen und
mich dann auf den Weg zu führen, auf dem ich zur nächsten
Gastwirtschaft komme." "Aber rasch", sagte Green. "Sie
machen mir nicht wenig Scherereien." Beim Anblick des großen
Schrittes, den Green gleich gemacht hatte, stockte Josie, das war
doch eine verdächtige Eile, und er fasste Green unten beim Rock und
sagte in einem plötzlichen Erkennen des wahren Sachverhaltes: "Eines
müssen Sie mir noch erklären. Auf dem Umschlag des Briefes, den Sie
mir zu übergeben hatten, steht bloß, dass ich ihn um Mitternacht
erhalten soll, wo immer ich angetroffen werde. Warum haben Sie mich
also mit Berufung auf diesen Brief hier zurückgehalten, als ich um
Viertel zwölf von hier fort wollte? Sie gingen dabei über ihren
Auftrag hinaus." Green leitete seine Antwort mit einer
Handbewegung ein, welche das Unnütze von Josies Bemerkung
übertrieben darstellte, und sagte dann: "Steht vielleicht auf
dem Umschlag, dass ich mich ihretwegen zu Tode hetzen soll und lässt
vielleicht der Inhalt des Briefes darauf schließen, dass die
Aufschrift so aufzufassen ist? Hätte ich Sie nicht zurückgehalten,
hätte ich Ihnen den Brief eben um Mitternacht auf der Landstraße
übergeben müssen." "Nein", sagte Josie unbeirrt, "es
ist nicht ganz so. Auf dem Umschlag steht, 'zu übergeben nach
Mitternacht'. Wenn Sie zu müde waren, hätten Sie mir vielleicht gar
nicht folgen können, oder ich wäre, was allerdings selbst Herr
Pollunder geleugnet hat, schon um Mitternacht bei meinem Onkel
angekommen oder es wäre schließlich ihre Pflicht gewesen, mich in
ihrem Automobil, von dem plötzlich nicht mehr die Rede war, zu
meinem Onkel zurückzubringen, da ich so danach verlangte
zurückzukehren. Besagt nicht die Überschrift ganz deutlich, dass
die Mitternacht für mich noch der letzte Termin sein soll? Und Sie
sind es, der die Schuld trägt, dass ich ihn versäumt habe."
Josie sah Green mit scharfen Augen an und erkannte wohl wie in Green
die Beschämung über diese Entlarvung mit der Freude über das
Gelingen seiner Absicht kämpfte. Endlich nahm er sich zusammen,
sagte in einem Tone, als wäre er Josie, der doch schon lange
schwieg, mitten in die Rede gefallen: "Kein Wort weiter!"
und schob ihn, der den Koffer und Schirm wieder aufgenommen hatte,
durch eine kleine Tür, die er vor ihm aufstieß, hinaus.
Josie
stand erstaunt im Freien. Eine an das Haus angebaute Treppe ohne
Geländer führte vor ihm hinab. Er musste nur hinunter gehn und dann
sich ein wenig rechts zur Allee wenden, die auf die Landstraße
führte. In dem hellen Mondschein konnte man sich gar nicht verirren.
Unten im Garten hörte er das vielfache Bellen von Hunden, die
losgelassen rings herum im Dunkel der Bäume liefen. Man hörte in
der sonstigen Stille ganz genau, wie sie nach ihren großen Sprüngen
ins Gras schlugen.
Ohne
von diesen Hunden belästigt zu werden, kam Josie glücklich aus dem
Garten. Er konnte nicht mit Bestimmtheit feststellen, in welcher
Richtung New York lag, er hatte bei der Herfahrt zu wenig auf die
Einzelheiten geachtet, die ihm jetzt hätten nützlich sein können.
Schließlich sagte er sich, dass er ja nicht unbedingt nach New York
müsse, wo ihn niemand erwarte und einer sogar mit Bestimmtheit nicht
erwarte. Er wählte also eine beliebige Richtung und machte sich auf
den Weg.
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