Dienstag, 28. November 2017

Franz Kafka - "Der Verschollene" (Amerika) in der Fassung der modernen Rechtschreibung, ganzer Roman in 11 Teilen, Teil 2

Kapitel II: Der Onkel
Studien und Geschäft/Zweieinhalb Monate/Zwei dicke Herren/Die Sorge des Onkels/Josies Müdigkeit
Im Hause des Onkels gewöhnte sich Josie bald an die neuen Verhältnisse. Der Onkel kam ihm aber auch in jeder Kleinigkeit freundlich entgegen und niemals musste Josie sich erst durch schlechte Erfahrungen belehren lassen, wie dies meist das erste Leben im Ausland so verbittert.
Josies Zimmer lag im sechsten Stockwerk eines Hauses, dessen fünf untere Stockwerke, an welche sich in der Tiefe noch drei unterirdische anschlossen, von dem Geschäftsbetrieb des Onkels eingenommen wurden. Das Licht, das in sein Zimmer durch zwei Fenster und eine Balkontüre eindrang, brachte Josie immer wieder zum Staunen, wenn er des Morgens aus seiner kleinen Schlafkammer hier eintrat. Wo hätte er wohl wohnen müssen, wenn er als armer kleiner Einwanderer ans Land gestiegen wäre? Ja, vielleicht hätte man ihn, was der Onkel nach seiner Kenntnis der Einwanderungsgesetze sogar für sehr wahrscheinlich hielt, gar nicht in die Vereinigten Staaten eingelassen, sondern ihn nach Hause geschickt, ohne sich weiter darum zu kümmern, dass er keine Heimat mehr hatte. Denn auf Mitleid durfte man hier nicht hoffen, und es war ganz richtig, was Josie in dieser Hinsicht über Amerika gelesen hatte; nur die Glücklichen schienen hier ihr Glück zwischen den unbekümmerten Gesichtern ihrer Umgebung wahrhaft zu genießen.
Ein schmaler Balkon zog sich vor dem Zimmer seiner ganzen Länge nach hin. Was aber in der Heimatstadt Josies wohl der höchste Aussichtspunkt gewesen wäre, gestattete hier nicht viel mehr als den Überblick über eine Straße, die zwischen zwei Reihen förmlich abgehackter Häuser gerade und darum wie fliehend in die Ferne sich verlief, wo aus vielem Dunst die Formen einer Kathedrale ungeheuer sich erhoben. Und morgens wie abends und in den Träumen der Nacht vollzog sich auf dieser Straße ein immer drängender Verkehr, der von oben gesehen, sich als eine aus immer neuen Anfängen ineinander gestreute Mischung von verzerrten menschlichen Figuren und von Dächern der Fuhrwerke aller Art darstellte, von der aus sich noch eine neue, vervielfältigte, wildere Mischung von Lärm, Staub und Gerüchen erhob, und alles dieses wurde erfasst und durchdrungen von einem mächtigen Licht, das immer wieder von der Menge der Gegenstände zerstreut, fortgetragen und wieder eifrig herbeigebracht wurde und das dem betörten Auge so körperlich erschien, als werde über dieser Straße eine alles bedeckende Glasscheibe jeden Augenblick immer wieder mit aller Kraft zerschlagen.
Vorsichtig, wie der Onkel in allem war, riet er Josie, sich vorläufig ernsthaft nicht auf das Geringste einzulassen. Er sollte wohl alles prüfen und anschauen, aber sich nicht gefangen nehmen lassen. Die ersten Tage eines Europäers in Amerika seien ja einer Geburt vergleichbar und wenn man sich hier auch, damit nur Josie keine unnötige Angst habe, rascher eingewöhne, als wenn man vom Jenseits in die menschliche Welt eintrete, so müsse man sich doch vor Augen halten, dass das erste Urteil immer auf schwachen Füßen stehe und dass man sich dadurch nicht vielleicht alle künftigen Urteile, mit deren Hilfe man ja hier sein Leben weiterführen wolle, in Unordnung bringen lassen dürfe. Er selbst habe Neuankömmlinge gekannt, die z.B. statt nach diesen guten Grundsätzen sich zu verhalten, tagelang auf ihrem Balkon gestanden und wie verlorene Schafe auf die Straße herunter gesehen hätten. Das müsse unbedingt verwirren! Diese einsame Untätigkeit, die sich in einen arbeitsreichen New Yorker Tag verschaut, könne einem Vergnügungsreisenden gestattet und vielleicht, wenn auch nicht vorbehaltlos, angeraten werden, für einen der hier bleiben wird, sei sie ein Verderben, man könne in diesem Fall ruhig dieses Wort anwenden, wenn es auch eine Übertreibung ist. Und tatsächlich verzog der Onkel immer ärgerlich das Gesicht, wenn er bei einem seiner Besuche, die immer nur einmal täglich und zwar immer zu den verschiedensten Tageszeiten erfolgten, Josie auf dem Balkone antraf. Josie merkte das bald und versagte sich infolgedessen das Vergnügen, auf dem Balkon zu stehen, nach Möglichkeit.
Es war ja auch bei weitem nicht das einzige Vergnügen, das er hatte. In seinem Zimmer stand ein amerikanischer Schreibtisch bester Sorte, wie sich ihn sein Vater seit Jahren gewünscht und auf den verschiedensten Versteigerungen um einen ihm erreichbaren, billigen Preis zu kaufen gesucht hatte, ohne dass es ihm bei seinen kleinen Mitteln jemals gelungen wäre. Natürlich war dieser Tisch mit jenen angeblich amerikanischen Schreibtischen, wie sie sich auf europäischen Versteigerungen herumtreiben, nicht zu vergleichen. Er hatte z.B. in seinem Aufsatz hundert Fächer verschiedenster Größe und selbst der Präsident der Union hätte für jeden seiner Akten einen passenden Platz gefunden, aber außerdem war an der Seite ein Regulator und man konnte durch Drehen an der Kurbel die verschiedensten Umstellungen und Neueinrichtungen der Fächer nach Belieben und Bedarf erreichen. Dünne Seitenwändchen senkten sich langsam und bildeten den Boden neu sich erhebender oder die Decke neu aufsteigender Fächer; schon nach einer Umdrehung hatte der Aufsatz ein ganz anderes Aussehen und alles ging, je nachdem man die Kurbel drehte, langsam oder unsinnig rasch vor sich. Es war eine neueste Erfindung, erinnerte aber Josie sehr lebhaft an die Krippenspiele, die zuhause auf dem Christmarkt den staunenden Kindern gezeigt wurden, und auch Josie war oft in seine Winterkleider eingepackt davor gestanden und hatte ununterbrochen die Kurbeldrehung, die ein alter Mann ausführte, mit den Wirkungen im Krippenspiel verglichen, mit dem stockenden Vorwärtskommen der heiligen drei Könige, dem Aufglänzen des Sternes und dem befangenen Leben im heiligen Stall. Und immer war es ihm erschienen, als ob die Mutter, die hinter ihm stand, nicht genau genug alle Ereignisse verfolge, er hatte sie zu sich hingezogen, bis er sie an seinem Rücken fühlte und hatte ihr solange mit lauten Ausrufen verborgenere Erscheinungen gezeigt, vielleicht ein Häschen, das vorn im Gras abwechselnd Männchen machte und sich dann wieder zum Lauf bereitete, bis die Mutter ihm den Mund zuhielt und wahrscheinlich in ihre frühere Unachtsamkeit verfiel. Der Tisch war freilich nicht dazu gemacht, um an solche Dinge zu erinnern, aber in der Geschichte der Erfindungen bestand wohl ein ähnlich undeutlicher Zusammenhang wie in Josies Erinnerungen. Der Onkel war zum Unterschied von Josie mit diesem Schreibtisch durchaus nicht einverstanden, nur hatte er eben für Josie einen ordentlichen Schreibtisch kaufen wollen und solche Schreibtische waren jetzt sämtlich mit dieser Neueinrichtung versehen, deren Vorzug nämlich auch darin bestand, bei älteren Schreibtischen ohne große Kosten angebracht werden zu können. Immerhin unterließ der Onkel nicht, Josie zu raten, den Regulator möglichst gar nicht zu verwenden; um die Wirkung des Rates zu verstärken, behauptete der Onkel, die Maschinerie sei sehr empfindlich, leicht zu verderben und die Wiederherstellung sehr kostspielig. Es war nicht schwer einzusehen, dass solche Bemerkungen nur Ausflüchte waren, wenn man sich auch andererseits sagen musste, dass der Regulator sehr leicht zu fixieren war, was der Onkel jedoch nicht tat.
In den ersten Tagen, an denen selbstverständlich zwischen Josie und dem Onkel häufigere Aussprachen stattgefunden hatten, hatte Josie auch erzählt, dass er zu Hause wenig zwar, aber gern Klavier gespielt habe, was er allerdings lediglich mit den Anfangskenntnissen hatte bestreiten können, die ihm die Mutter beigebracht hatte. Josie war sich dessen wohl bewusst, dass eine solche Erzählung gleichzeitig die Bitte um ein Klavier war, aber er hatte sich schon genügend umgesehen, um zu wissen, dass der Onkel auf keine Weise zu sparen brauchte. Trotzdem wurde ihm diese Bitte nicht gleich gewährt, aber etwa acht Tage später sagte der Onkel, fast in der Form eines widerwilligen Eingeständnisses, das Klavier sei eben angelangt und Josie könne, wenn er wolle, den Transport überwachen. Das war allerdings eine leichte Arbeit, aber dabei nicht einmal viel leichter als der Transport selbst, denn im Haus war ein eigener Möbelaufzug, in welchem ohne Gedränge ein ganzer Möbelwagen Platz finden konnte, und in diesem Aufzug schwebte auch das Piano zu Josies Zimmer hinauf. Josie selbst hätte zwar in dem gleichen Aufzug mit dem Piano und den Transportarbeitern fahren können, aber da gleich daneben ein Personenaufzug zur Benutzung frei stand, fuhr er in diesem, hielt sich mittels eines Hebels stets in gleicher Höhe mit dem andern Aufzug und betrachtete unverwandt durch die Glaswände das schöne Instrument, das jetzt sein Eigentum war. Als er es in seinem Zimmer hatte und die ersten Töne anschlug, bekam er eine so närrische Freude, dass er statt weiter zu spielen aufsprang und aus einiger Entfernung die Hände in den Hüften das Klavier lieber anstaunte. Auch die Akustik des Zimmers war ausgezeichnet und sie trug dazu bei, sein anfängliches, kleines Unbehagen, in einem Eisenhause zu wohnen, gänzlich verschwinden zu lassen. Tatsächlich merkte man auch im Zimmer, so eisenmäßig das Gebäude von außen erschien, von eisernen Baubestandteilen nicht das Geringste, und niemand hätte auch nur eine Kleinigkeit in der Einrichtung aufzeigen können, welche die vollständigste Gemütlichkeit irgendwie gestört hätte. Josie erhoffte sich in der ersten Zeit viel von seinem Klavierspiel und schämte sich nicht, wenigstens vor dem Einschlafen an die Möglichkeit einer unmittelbaren Beeinflussung der amerikanischen Verhältnisse durch dieses Klavierspiel zu denken. Es klang ja allerdings sonderbar, wenn er vor den in die Lärm erfüllte Luft geöffneten Fenstern ein altes Soldatenlied seiner Heimat spielte, das die Soldaten am Abend, wenn sie in den Kasernenfenstern liegen und auf den finstern Platz hinaus schauen, von Fenster zu Fenster einander zusingen — aber sah er dann auf die Straße, so war sie unverändert und nur ein kleines Stück eines großen Kreislaufes, das man nicht an und für sich anhalten konnte, ohne alle Kräfte zu kennen, die in der Runde wirkten. Der Onkel duldete das Klavierspiel, sagte auch nichts dagegen, zumal Josie sich auch ohne Mahnung nur selten das Vergnügen des Spieles gönnte, ja, er brachte Josie sogar Noten amerikanischer Märsche und natürlich auch der Nationalhymne, aber allein aus der Freude an der Musik war es wohl nicht zu erklären, als er eines Tages, ohne allen Scherz, Josie fragte, ob er nicht auch das Spiel auf der Geige oder auf dem Waldhorn lernen wolle.
Natürlich war das Lernen des Englischen Josies erste und wichtigste Aufgabe. Ein junger Professor einer Handelshochschule erschien morgens um sieben Uhr in Josies Zimmer und fand ihn schon an seinem Schreibtisch bei den Heften sitzen oder memorierend im Zimmer auf und ab gehn. Josie sah wohl ein, dass zur Aneignung des Englischen keine Eile groß genug sei und dass er hier außerdem die beste Gelegenheit habe, seinem Onkel eine außerordentliche Freude durch rasche Fortschritte zu machen. Und tatsächlich gelang es bald, während zuerst das Englische in den Gesprächen mit dem Onkel sich auf Gruß und Abschiedsworte beschränkt hatte, immer größere Teile der Gespräche ins Englische hinüber zu spielen, wodurch gleichzeitig vertraulichere Themen sich einzustellen begannen. Das erste amerikanische Gedicht, die Darstellung einer Feuersbrunst, das Josie seinem Onkel an einem Abend rezitieren konnte, machte diesen tief ernst vor Zufriedenheit. Sie standen damals beide an einem Fenster in Josies Zimmer, der Onkel sah hinaus, wo alle Helligkeit des Himmels schon vergangen war, und schlug im Mitgefühl der Verse langsam und gleichmäßig in die Hände, während Josie aufrecht neben ihm stand und mit starren Augen das schwierige Gedicht sich entrang.
Je besser Josies Englisch wurde, desto größere Lust zeigte der Onkel, ihn mit seinen Bekannten zusammenzuführen und ordnete nur für jeden Fall an, dass bei solchen Zusammenkünften vorläufig der Englischprofessor sich immer in Josies Nähe zu halten habe. Der allererste Bekannte, dem Josie eines Vormittags vorgestellt wurde, war ein schlanker, junger, unglaublich biegsamer Mann, den der Onkel mit besonderen Komplimenten in Josies Zimmer führte. Es war offenbar einer jener vielen, vom Standpunkt der Eltern aus gesehen, missratenen Millionärssöhne, dessen Leben so verlief, dass ein gewöhnlicher Mensch auch nur einen beliebigen Tag im Leben dieses jungen Mannes nicht ohne Schmerz verfolgen konnte. Und als wisse oder ahne er dies und als begegne er dem, so weit es in seiner Macht stand, war um seine Lippen und Augen ein unaufhörliches Lächeln des Glückes, das ihm selbst, seinem Gegenüber und der ganzen Welt zu gelten schien.
Mit diesem jungen Mann, einem Herrn Mack, wurde unter unbedingter Zustimmung des Onkels, besprochen, gemeinsam um halb sechs Uhr früh, sei es in der Reitschule, sei es ins Freie zu reiten. Josie zögerte zwar zuerst seine Zusage zu geben, da er doch noch niemals auf einem Pferd gesessen war und das Reiten zuerst ein wenig lernen wolle, aber da ihm der Onkel und Mack so sehr zuredeten und das Reiten als bloßes Vergnügen und als gesunde Übung, aber gar nicht als Kunst, darstellten, sagte er schließlich zu. Nun musste er allerdings schon um halb fünf aus dem Bett und das tat ihm oft sehr Leid, denn er litt hier, wohl infolge der steten Aufmerksamkeit, die er während des Tages aufwenden musste, geradezu an Schlafsucht, aber in seinem Badezimmer verlor sich das Bedauern bald. Über die ganze Wanne, der Länge und Breite nach, spannte sich das Sieb der Dusche — welcher Mitschüler zuhause und war er noch so reich, besaß etwas Derartiges und gar noch allein für sich — und da lag nun Josie ausgestreckt, in dieser Wanne konnte er die Arme ausbreiten und ließ die Ströme des lauen, heißen, wieder lauen und endlich eisigen Wassers, nach Belieben teilweise oder über die ganze Fläche hin auf sich herab. Wie in dem noch ein wenig fortlaufenden Genusse des Schlafes lag er da und fing besonders gern mit den geschlossenen Augenlidern die letzten, einzeln fallenden Tropfen auf, die sich dann öffneten und über das Gesicht hin flossen.
In der Reitschule, wo ihn das hoch sich aufbauende Automobil des Onkels absetzte, erwartete ihn bereits der Englischprofessor, während Mack ausnahmslos erst später kam. Er konnte aber auch unbesorgt erst später kommen, denn das eigentliche, lebendige Reiten fing erst an, wenn er da war. Bäumten sich nicht die Pferde aus ihrem bisherigen Halbschlaf auf, wenn er eintrat, knallte die Peitsche nicht lauter durch den Raum, erschienen nicht plötzlich auf der umlaufenden Galerie einzelne Personen, Zuschauer, Pferdewärter, Reitschüler oder was sie sonst sein mochten? Josie aber nützte die Zeit vor der Ankunft Macks dazu aus, um doch ein wenig, wenn auch nur die primitivsten Vorübungen des Reitens, zu betreiben. Es war ein langer Mann da, der auf den höchsten Pferderücken mit kaum erhobenem Arm hinauf reichte und der Josie diesen immer kaum eine Viertelstunde dauernden Unterricht erteilte. Die Erfolge, die Josie hierbei hatte, waren nicht übergroß und er konnte sich viele englische Klagerufe dauernd aneignen, die er während dieses Lernens zu seinem Englischprofessor atemlos ausstieß, der immer am gleichen Türpfosten meist sehr schlafbedürftig lehnte. Aber fast alle Unzufriedenheit mit dem Reiten hörte auf, wenn Mack kam. Der lange Mann wurde weggeschickt und bald hörte man in dem noch immer halbdunklen Saal nichts anderes, als die Hufe der galoppierenden Pferde und man sah kaum etwas anderes als Macks erhobenen Arm, mit dem er Josie ein Kommando gab. Nach einer halben Stunde solchen wie Schlaf vergehenden Vergnügens, wurde Halt gemacht, Mack war in großer Eile, verabschiedete sich von Josie, klopfte ihm manchmal auf die Wange, wenn er mit seinem Reiten besonders zufrieden gewesen war und verschwand, ohne vor großer Eile mit Josie auch nur gemeinsam durch die Tür heraus zu gehen. Josie nahm dann den Professor mit ins Automobil und sie fuhren zu ihrer Englischstunde meist auf Umwegen, denn bei der Fahrt durch das Gedränge der großen Straße, die eigentlich direkt von dem Hause des Onkels zur Reitschule führte, wäre zu viel Zeit verloren gegangen. Im Übrigen hörte wenigstens diese Begleitung des Englischprofessors bald auf, denn Josie, der sich Vorwürfe machte, den müden Mann nutzlos in die Reitschule zu bemühen, zumal die englische Verständigung mit Mack eine sehr einfache war, bat den Onkel, den Professor von dieser Pflicht zu entheben. Nach einiger Überlegung gab der Onkel dieser Bitte auch nach.
Verhältnismäßig lange dauerte es, ehe sich der Onkel entschloss, Josie auch nur einen kleinen Einblick in sein Geschäft zu erlauben, trotzdem Josie öfters darum ersucht hatte. Es war eine Art Kommissions- und Speditionsgeschäftes, wie sie, so weit sich Josie erinnern konnte, in Europa vielleicht gar nicht zu finden war. Das Geschäft bestand nämlich in einem Zwischenhandel, der aber die Waren nicht etwa von den Produzenten zu den Konsumenten oder vielleicht zu den Händlern vermittelte, sondern welcher die Vermittlung aller Waren und Urprodukte für die großen Fabrikskartelle und zwischen ihnen besorgte. Es war daher ein Geschäft, welches in einem Käufe, Lagerungen, Transporte und Verkäufe riesenhaften Umfangs umfasste und ganz genaue, unaufhörliche telefonische und telegrafische Verbindungen mit den Klienten unterhalten musste. Der Saal der Telegrafen war nicht kleiner, sondern größer als das Telegrafenamt der Vaterstadt, durch das Josie einmal an der Hand eines dort bekannten Mitschülers gegangen war. Im Saal der Telefone gingen, wohin man schaute, die Türen der Telefonzellen auf und zu und das Läuten war sinnverwirrend. Der Onkel öffnete die nächste dieser Türen und man sah dort im sprühenden elektrischen Licht einen Angestellten gleichgültig gegen jedes Geräusch der Türe, den Kopf eingespannt in ein Stahlband, das ihm die Hörmuscheln an die Ohren drückte. Der rechte Arm lag auf einem Tischchen, als wäre er besonders schwer und nur die Finger, welche den Bleistift hielten, zuckten unmenschlich gleichmäßig und rasch. In den Worten, die er in den Sprechtrichter sagte, war er sehr sparsam und oft sah man sogar, dass er vielleicht gegen den Sprecher etwas einzuwenden hatte, ihn etwas genauer fragen wollte, aber gewisse Worte, die er hörte, zwangen ihn, ehe er seine Absicht ausführen konnte, die Augen zu senken und zu schreiben. Er musste auch nicht reden, wie der Onkel Josie leise erklärte, denn die gleichen Meldungen, wie sie dieser Mann aufnahm, wurden noch von zwei anderen Angestellten gleichzeitig aufgenommen und dann verglichen, so dass Irrtümer möglichst ausgeschlossen waren. In dem gleichen Augenblick, als der Onkel und Josie aus der Tür getreten waren, schlüpfte ein Praktikant hinein und kam mit dem inzwischen beschriebenen Papier heraus. Mitten durch den Saal war ein beständiger Verkehr von hin und her gejagten Leuten. Keiner grüßte, das Grüßen war abgeschafft, jeder schloss sich den Schritten des ihm vorhergehenden an und sah auf den Boden, auf dem er möglichst rasch vorwärts kommen wollte oder fing mit den Blicken wohl nur einzelne Worte oder Zahlen von Papieren ab, die er in der Hand hielt und die bei seinem Laufschritt flatterten.
"Du hast es wirklich weit gebracht", sagte Josie einmal auf einem dieser Gänge durch den Betrieb, auf dessen Durchsicht man viele Tage verwenden musste, selbst wenn man jede Abteilung gerade nur gesehen haben wollte.
"Und alles habe ich vor dreißig Jahren selbst eingerichtet, musst du wissen. Ich hatte damals im Hafenviertel ein kleines Geschäft, und wenn dort am Tag fünf Kisten abgeladen waren, so war es viel, und ich ging aufgeblasen nach Hause. Heute habe ich die drittgrößten Lagerhäuser im Hafen und jener Laden ist das Esszimmer und die Gerätekammer der fünfundsechzigsten Gruppe meiner Packträger.
"Das grenzt ja ans Wunderbare", sagte Josie.
"Alle Entwicklungen gehen hier so schnell vor sich", sagte der Onkel, das Gespräch abbrechend.
Eines Tages kam der Onkel knapp vor der Zeit des Essens, das Josie wie gewöhnlich allein einzunehmen gedachte und forderte ihn auf, sich gleich schwarz anzuziehen und mit ihm zum Essen zu kommen, an welchem zwei Geschäftsfreunde teilnehmen würden. Während Josie sich im Nebenzimmer umkleidete, setzte sich der Onkel zum Schreibtisch und sah die gerade beendete Englischaufgabe durch, schlug mit der Hand auf den Tisch und rief laut: "Wirklich ausgezeichnet!"
Zweifellos gelang das Anziehen besser, als Josie dieses Lob hörte, aber er war auch wirklich seines Englischen schon ziemlich sicher.
Im Speisezimmer des Onkels, das er vom ersten Abend seiner Ankunft noch in Erinnerung hatte, erhoben sich zwei große, dicke Herren zur Begrüßung, ein gewisser Green der eine, ein gewisser Pollunder der Zweite, wie sich während des Tischgespräches herausstellte. Der Onkel pflegte nämlich kaum ein flüchtiges Wort über irgendwelche Bekannten auszusprechen und überließ es immer Josie, durch eigene Beobachtung das Notwendige oder Interessante herauszufinden. Nachdem während des eigentlichen Essens nur intime geschäftliche Angelegenheiten besprochen worden waren, was für Josie eine gute Lektion hinsichtlich kaufmännischer Ausdrücke bedeutete, und man Josie still mit seinem Essen sich hatte beschäftigen lassen, als sei er ein Kind, das sich vor allem ordentlich satt essen müsse, beugte sich Herr Green zu Josie hin und fragte in dem unverkennbaren Bestreben, ein möglichst deutliches Englisch zu sprechen, im Allgemeinen nach Josies ersten amerikanischen Eindrücken. Josie antwortete unter einer Sterbensstille rings herum mit einigen Seitenblicken auf den Onkel ziemlich ausführlich und suchte sich zum Dank durch eine etwas new yorkisch gefärbte Redeweise angenehm zu machen. Bei einem Ausdruck lachten sogar alle drei Herren durcheinander und Josie fürchtete schon, einen groben Fehler gemacht zu haben, jedoch nein, er hatte, wie ihm Herr Pollunder erklärte, sogar etwas sehr Gelungenes gesagt. Dieser Herr Pollunder schien überhaupt an Josie ein besonderes Gefallen zu finden und während der Onkel und Herr Green wieder zu den geschäftlichen Besprechungen zurückkehrten, ließ Herr Pollunder Josie seinen Sessel nahe zu sich hin schieben, fragte ihn zuerst vielerlei über seinen Namen, seine Herkunft und seine Reise aus, bis er dann schließlich, um Josie wieder ausruhen zu lassen, lachend, hustend und eilig selbst von sich und seiner Tochter erzählte, mit der er auf einem kleinen Landgut in der Nähe von New York wohnte, wo er aber allerdings nur die Abende verbringen konnte, denn er war Bankier und sein Beruf hielt ihn in New York den ganzen Tag. Josie wurde auch gleich herzlichst eingeladen, auf dieses Landgut herauszukommen, ein so frisch gebackener Amerikaner wie Josie habe ja auch sicher das Bedürfnis, sich von New York manchmal zu erholen.
Josie bat den Onkel sofort um die Erlaubnis, diese Einladung annehmen zu dürfen und der Onkel gab auch scheinbar freudig diese Erlaubnis, ohne aber ein bestimmtes Datum zu nennen oder auch nur in Erwägung ziehen zu lassen, wie es Josie und Herr Pollunder erwartet hatten.
Aber schon am nächsten Tag wurde Josie in ein Büro des Onkels beordert — der Onkel hatte zehn verschiedene Büros allein in diesem Hause — wo er den Onkel und Herrn Pollunder beide ziemlich einsilbig in den Fauteuils liegend antraf. "Herr Pollunder", sagte der Onkel, er war in der Abenddämmerung des Zimmers kaum zu erkennen, "Herr Pollunder ist gekommen, um dich auf sein Landgut mitzunehmen, wie wir es gestern besprochen haben." "Ich wusste nicht, dass es schon heute sein sollte", antwortete Josie, "sonst wäre ich schon vorbereitet." "Wenn du nicht vorbereitet bist, dann verschieben wir vielleicht den Besuch besser für nächstens", meinte der Onkel. "Was für Vorbereitungen!" rief Herr Pollunder. "Ein junger Mann ist immer vorbereitet." "Es ist nicht seinetwegen", sagte der Onkel zu seinem Gaste gewendet, "aber er müsste immerhin noch in sein Zimmer hinaufgehen und Sie wären aufgehalten." "Es ist auch dazu reichlich Zeit", sagte Herr Pollunder, "ich habe auch eine Verzögerung vorbedacht und früher Geschäftsschluss gemacht." "Du siehst", sagte der Onkel, "was für Unannehmlichkeiten dein Besuch schon jetzt veranlasst." "Es tut mir Leid", sagte Josie, "aber ich werde gleich wieder da sein" und wollte schon weg springen. "Übereilen Sie sich nicht", sagte Herr Pollunder. "Sie machen mir nicht die geringsten Unannehmlichkeiten, dagegen macht mir ihr Besuch eine reine Freude." "Du versäumst morgen deine Reitstunde, hast du sie schon abgesagt?" "Nein", sagte Josie, dieser Besuch, auf den er sich gefreut hatte, fing an eine Last zu werden, "ich wusste ja nicht-". "Und trotzdem willst du weg fahren?" fragte der Onkel weiter. Herr Pollunder, dieser freundliche Mensch, kam zur Hilfe. "Wir werden auf der Fahrt bei der Reitschule halten und die Sache in Ordnung bringen." "Das lässt sich hören", sagte der Onkel. "Aber Mack wird dich doch erwarten." "Erwarten wird er mich nicht", sagte Josie, "aber er wird allerdings hinkommen." "Nun also?" sagte der Onkel, als wäre Josies Antwort nicht die geringste Rechtfertigung gewesen. Wieder sagte Herr Pollunder das Entscheidende: "Aber Klara", sie war Herrn Pollunders Tochter, "erwartet ihn auch, und schon heute Abend, und sie hat wohl den Vorzug vor Mack?" "Allerdings", sagte der Onkel. "Also lauf schon in dein Zimmer", und er schlug mehrmals wie ohne Willen gegen die Armlehne des Fauteuils. Josie war schon bei der Tür, als ihn der Onkel noch mit der Frage zurückhielt: "Zur Englischstunde bist du doch wohl morgen früh wieder hier?" "Aber!" rief Herr Pollunder und drehte sich, so weit es seine Dicke erlaubte, in seinem Fauteuil vor Erstaunen. "Ja darf er denn nicht wenigstens den morgigen Tag draußen bleiben? Ich brächte ihn dann übermorgen früh wieder zurück." "Das geht auf keinen Fall", erwiderte der Onkel. "Ich kann sein Studium nicht so in Unordnung kommen lassen. Später, wenn er in einem an und für sich geregelten Berufsleben sein wird, werde ich ihm sehr gern auch für längere Zeit erlauben, einer so freundlichen und ehrenden Einladung zu folgen." "Was das für Widersprüche sind!" dachte Josie. Herr Pollunder war traurig geworden. "Für einen Abend und eine Nacht steht es aber wirklich fast nicht dafür." "Das war auch meine Meinung", sagte der Onkel. "Man muss nehmen, was man bekommt", sagte Herr Pollunder und lachte schon wieder. "Also, ich warte", rief er Josie zu, welcher, da der Onkel nichts mehr sagte, davon eilte. Als er bald reisefertig zurückkehrte, traf er im Büro nur noch Herrn Pollunder, der Onkel war fortgegangen. Herr Pollunder schüttelte Josie ganz glücklich beide Hände, als wolle er sich so stark als möglich dessen vergewissern, dass Josie nun doch mitfahre. Josie war noch ganz erhitzt von der Eile und schüttelte auch seinerseits Herrn Pollunders Hände, er freute sich, den Ausflug machen zu können. "Hat sich der Onkel nicht darüber geärgert, dass ich fahre?" "Aber nein! Das hat er ja alles nicht so ernst gemeint. Ihre Erziehung liegt ihm eben am Herzen." "Hat er es Ihnen selbst gesagt, dass er das Frühere nicht so ernst gemeint hat?" "Oh ja", sagte Herr Pollunder gedehnt und bewies damit, dass er nicht lügen konnte. "Es ist merkwürdig, wie ungern er mir die Erlaubnis gegeben hat, Sie zu besuchen, trotzdem Sie doch sein Freund sind." Auch Herr Pollunder konnte, trotzdem er dies nicht offen eingestand, keine Erklärung dafür finden und beide dachten, als sie in Herrn Pollunders Automobil durch den warmen Abend fuhren, noch lange darüber nach, trotzdem sie gleich von andern Dingen sprachen.
Sie saßen eng beieinander und Herr Pollunder hielt Josies Hand in der seinen, während er erzählte. Josie wollte vieles über das Fräulein Klara hören, als sei er ungeduldig über die lange Fahrt und könne mit Hilfe der Erzählungen früher ankommen als in Wirklichkeit. Trotzdem er am Abend noch niemals durch die New Yorker Straßen gefahren war und über Trottoir und Fahrbahn, alle Augenblicke die Richtung wechselnd, wie in einem Wirbelwind, der Lärm jagte, nicht wie von Menschen verursacht, sondern wie ein fremdes Element, kümmerte sich Josie, während er Herrn Poilunders Worte genau aufzunehmen suchte, um nichts anderes, als um Herrn Pollunders dunkle Weste, über die quer eine goldene Kette ruhig hing. Aus den Straßen, wo das Publikum in großer, unverhüllter Furcht vor Verspätung im fliegenden Schritt und in Fahrzeugen, die zu möglichster Eile gebracht waren, zu den Theatern drängte, kamen sie durch Übergangsbezirke in die Vorstädte, wo ihr Automobil durch Polizeileute zu Pferd immer wieder in Seitenstraßen gewiesen wurde, da die großen Straßen von den demonstrierenden Metallarbeitern, die im Streik standen, besetzt waren und nur der notwendigste Wagenverkehr an den Kreuzungsstellen gestattet werden konnte. Durchquerte dann das Automobil aus dunkleren, dumpf hallenden Gassen kommend, eine dieser ganzen Plätzen gleichenden Straßen, dann erschienen nach beiden Seiten hin in Perspektiven, denen niemand bis zum Ende folgen konnte, die Trottoire angefüllt mit einer in winzigen Schritten sich bewegenden Masse, deren Gesang einheitlicher war, als der einer einzigen Menschenstimme. In der freigehaltenen Fahrbahn aber sah man hier und da einen Polizisten auf unbeweglichem Pferd oder Träger von Fahnen oder beschriebenen, über die Straße gespannten, Tüchern oder einen von Mitarbeitern und Ordonnanzen umgebenen Arbeiterführer oder einen Wagen der elektrischen Straßenbahn, der sich nicht rasch genug geflüchtet hatte und nun leer und dunkel dastand, während der Führer und der Schaffner auf der Plattform saßen. Kleine Trupps von Neugierigen standen weit entfernt von den wirklichen Demonstranten und verließen ihre Plätze nicht, trotzdem sie über die eigentlichen Ereignisse im Unklaren blieben. Josie aber lehnte froh in dem Arm, den Herr Pollunder um ihn gelegt hatte, die Überzeugung, dass er bald in einem beleuchteten, von Mauern umgebenen, von Hunden bewachten Landhause ein willkommener Gast sein werde; dies tat ihm über alle Maßen Wohl und wenn er auch wegen einer beginnenden Schläfrigkeit, nicht mehr alles, was Herr Pollunder sagte, fehlerlos oder wenigstens nicht ohne Unterbrechungen auffasste, so raffte er sich doch von Zeit zu Zeit auf und wischte sich die Augen, um wieder für eine Weile festzustellen, ob Herr Pollunder seine Schläfrigkeit bemerke, denn das wollte er um jeden Preis vermieden wissen.

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