Seiten
198, 199
Franz
Kafka in der Fassung der Handschrift: "Tagebücher 1914 - 1923",
Frankfurt am Main, 1994:
"16
I <1922> Es war in der letzten Woche wie ein Zusammenbruch, so
vollständig wie nur etwa in der einen Nacht vor 2 Jahren, ein
anderes Beispiel habe ich nicht erlebt. Alles schien zu Ende und
scheint auch heute durchaus noch nicht ganz anders zu sein. Man kann
es auf zweierlei Art auffassen und es ist auch wohl gleichzeitig so
aufzufassen. Erstens: Zusammenbruch, Unmöglichkeit zu schlafen,
Unmöglichkeit zu wachen, Unmöglichkeit das Leben, genauer die
Aufeinanderfolge des Lebens zu ertragen. Die Uhren stimmen nicht
überein, die innere jagt in einer teuflischen oder dämonischen oder
jedenfalls unmenschlichen Art, die äußere geht stockend ihren
gewöhnlichen Gang. Was kann anderes geschehn, als dass sich die zwei
verschiedenen Welten trennen und sie trennen sich oder reißen
zumindest an einander in einer fürchterlichen Art. Die Wildheit des
inneren Ganges mag verschiedene Gründe haben, der sichtbarste ist
die Selbstbeobachtung, die keine Vorstellung zur Ruhe kommen lässt,
jede empor jagt um dann selbst wieder als Vorstellung von neuer
Selbstbeobachtung weiter gejagt zu werden. Zweitens: Dieses Jagen
nimmt die Richtung aus der Menschheit. Die Einsamkeit, die mir zum
größten Teil seit jeher aufgezwungen war, zum Teil von mir gesucht
wurde - doch was war auch dies anderes als Zwang - wird jetzt ganz
unzweideutig und geht auf das Äußerste. Wohin führt sie? Sie kann,
dies scheint am zwingendsten, zum Irrsinn führen, darüber kann
nichts weiter ausgesagt werden, die Jagd geht durch mich und zerreißt
mich. Oder aber ich kann - ich kann? - sei es auch nur zum winzigsten
Teil mich aufrecht erhalten, lasse mich also von der Jagd tragen.
Wohin komme ich dann? 'Jagd' ist ja nur ein Bild, ich kann auch sagen
'Ansturm gegen die letzte irdische Grenze', und zwar Ansturm von
unten, von den Menschen her und kann, da auch dies nur ein Bild ist,
es ersetzen durch das Bild des Ansturmes von oben, zu mir herab.
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Diese
ganze Literatur ist Ansturm gegen die Grenze und sie hätte sich,
wenn nicht der Zionismus dazwischen gekommen wäre, leicht zu einer
neuen Geheimlehre, einer Kabbala entwickeln können. Ansätze dazu
bestehn. Allerdings ein wie unbegreifliches Genie wird hier verlangt,
das neu seine Wurzeln in die alten Jahrhunderte treibt oder die alten
Jahrhunderte neu erschafft und mit dem allen sich nicht ausgibt,
sondern jetzt erst sich auszugeben beginnt.
________
17
I <1922> Kaum anders.
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18.
I <1922> Jenes etwas stiller, dafür kommt G. Erlösung oder
Verschlimmerung wie man will."
Weniger
Schmerzen, mehr Geist, Genie: Obwohl Genie da eher hinkommt, eher als
Geschlecht, da Kafka das anders verwenden würde, als ich z.B. (mehr
spirituell), das "Geist"-Wort.
Gott
könnte das "G." auch heißen, aber nie und nimmer
"Geschlecht", wie in der Anmerkung dazu auf Seite 287 steht
(die Ausgabe ist von Hand-Gerd Koch herausgegeben: Hans-Gerd).
So
far in den Tagebüchern hatte Kafka nur Namen oder
Berufsbezeichnungen, Titel abgekürzt, wohl noch nicht einmal Orte.
Zur
Einsamkeit
"Die
Eltern spielten Karten; ich saß allein dabei, gänzlich fremd; der
Vater sagte, ich solle mitspielen oder wenigstens zuschauen; ich
redete mich irgendwie aus. Was bedeutete diese seit der Kindheit
vielmals wiederholte Ablehnung? Das gemeinschaftliche, gewissermaßen
das öffentliche Leben wurde mir durch die Einladung zugänglich
gemacht, die Leistung, die man als Beteiligung von mir verlangte,
hätte ich nicht gut, aber leidlich zu Stande gebracht, das Spielen
hätte mich wahrscheinlich nicht einmal allzu sehr gelangweilt -
trotzdem lehnte ich ab."
A.a.O.,
S. 192 f (25.10.1921).
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