Montag, 24. Juli 2017

Millionseller/Der Prozess/Mysterium der Fragmente/Im Dom/Zeitverwirrung/Malcolm Pasley/Das letzte Jahr im Leben von Josef K.

"Im Dom"
Auch nach dem "Dom"-Kapitel hätte "Der Prozess" bedenkenlos beendet werden können (dann als Roman): "'Ich gehöre also zum Gericht', sagte der Geistliche. 'Warum sollte ich also etwas von dir wollen? Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf wenn du kommst und es entlässt dich wenn du gehst.'" A.a.O., S. 235.
Die Handlung ist logisch, stringent aufeinander folgend, kein Fehler fiel mir auf, nur das Kapitel "Kaufmann Block/Kündigung des Advokaten", Seiten 175 - 208, ist unvollendet, die Kündigung wurde da noch nicht ausgesprochen und dass Josef K. weiterhin Kontakte zu Leni aufrecht erhalten wollte, das fehlt; dann wäre der Anschluss an das Dom-Kapitel gewahrt; im Roman selbst folgt dann noch das "Ende", ohne Artikel, das anfänglich gedachte Ende, sage ich, denn Kafka blickte echt nicht, dass es dann mehrere andere Enden gab, zumindest potenziell die von mir aufgeführten, und nicht nur die Türhüterlegende "Vor dem Gesetz" raus zu schreiben gewesen wäre. Und dennoch ist unwahrscheinlich, auch bei Publikation des Romans (in welcher Fassung auch immer), dass Kafka da vom Schreiben hätte leben können, seine Romane zu Lebzeiten Millionenauflagen erreicht hätten, wie nach seinem Tode.
Als er die Zeitfreiheit nach der Pensionierung hatte, da schrieb er großartig, nur die Krankheit hinderte ihn; so weit war seine Analyse also richtig.
Und ich leide am Qualm auf der Arbeit, bin deshalb so nach den Schichten kaputt, nicht etwa weil ich so selten arbeite, das deshalb nicht verkraften könne.

Eigene Zeit
Es ist zwar richtig, dass die Uhrzeiten bei einer Handschriftausgabe die beinhalten muss, die Kafka schrieb (und nicht etwa die Brod mehr gefallen haben), dennoch unterliegen die Uhrzeitangaben Kafkas "Im Dom" seinem Fehler, wenn Josef K. um 11 am Dom eintraf (Seite 216), dann war es nur folgerichtig, dass der Italiener nicht mehr da war, mit dem er sich um 10 dort treffen sollte (Seite 213), dann kann es aber bei einem erneuten Blick auf die Uhr nicht wieder 11 sein (Seite 220), als der Gefängnisgeistliche ihn dort anspricht, nachdem Josef K. eine halbe Stunde oder so in der Kirche rum lungerte (gewartet hat). Nach dem Gespräch hätte es elf sein können, dann fürwahr wäre es seine persönliche Zeit gewesen, das heißt eher die Nullzeit der Gerichtsebene.
Und in den vollendeten Kapiteln, ja dem vollendeten Roman ist Josef eigentlich nie kaputt (nur in den Kanzleien ist ihm mal schwindelig, er "Im Dom" verkühlt, durch Reisen, die er machen musste), Herr K. (etwas Brecht-Schleimerei, da Keuner).
Und meiner Meinung nach sind in der Kafkaschen Handschrift die Zahlen (Uhrzeiten) als Ziffern und nicht als Zahlwörter ausgeschrieben worden, wie eben bei mir, das wäre dann ein Eingriff in die Originalhandschrift gewesen (ich habe im letzten, vorletzten Monat die Fotokopien der Handschrift gelesen), der vielleicht auch in dem Apparateband zur Kritischen Ausgabe aufgeführt ist?!
Und definitiv sicher bin ich mir dessen nicht, ich weiß nur, dass mir die logischen Zeitunstimmigkeiten in 2 Fällen aufgefallen sind.
Ich weiß echt nicht mehr, wie die Brodsche Version aussah, und ich las den Roman da ja vom Anfang zum Ende, ohne das zu kennen, was da passieren würde, deshalb die Spannung jenseits von Literaturkritik, aber jedenfalls wollte ich dann die Fragmente erstmals in die Handlung einordnen, was aber nicht sein musste, da die meisten Sackgassen von Kafka waren und deshalb ja nicht in den Roman eingefügt; das erste, so genannte Fragment ist ein beendetes Kapitel, das nach dem 2. hätte eingefügt werden können, dann aber Fräulein Bürstner eine Bedeutung beimessen würde, die sie in diesem Romane nicht verdient hätte: Nebenschauplatz.
Das Fragment "Staatsanwalt" ist schon eher unvollendet, aber eine vollständige Sackgasse, denn wenn K. solch ein gutes Verhältnis zu dem Hasterer hätte, dann wäre es ja geradezu absurd einen (Winkel-) Advokaten wie Herrn Huld zu Rate zu ziehen, auch wenn K.'s Onkel dieser Meinung war (aber auch deshalb war ja die Kündigung dann erst recht notwendig), und auch obwohl der Hasterer Staatsanwalt und nicht Verteidiger war.
Das Mysterium der Fragmente macht den Roman für mich aus heutiger Sicht interessanter als das andere, er selbst (was wiederum ein bedeutender Fingerzeig für Max Brods herausragende Public Relations-Fertigkeiten wäre, das Vermarktungsgeschick): Immer kommt es mir in den Sinn, dass Kafka 70 Jahre nach seinem Tode ja "nur" knappe 1 Prozent des Gesamtumsatzes des Fischerverlages ausmachte.
Die Quote ist natürlich eingebrochen, da die Werke danach frei wurden, der Gesamtumsatz in Deutschland ist aber möglicherweise sogar noch gestiegen, durch mich, die KKA, Kafkas Kritische Ausgabe, die historisch-kritische Ausgabe (HKA) vom Stroemfeld/Roter Stern-Verlag, dessen Ausgabe auf 40 Bände angelegt ist, die "Proceß"-Handschrift-Xerokopie plus CD-ROM und Parallel-Textdruck der Handschrift kostet schlappe 199,- Euro.
Das "Ende" fand ich jetzt beim zweiten Lesen auch etwas artifiziell, da die Vollstrecker wie Schauspieler ("An welchem Theater spielen Sie?" Seite 236), Tenöre, anhand ihres Doppelkinns (Seite 237) oder Krankenwärter wirkten: Kunst (bis auf die Krankenwärter) und Religion (höheres Gericht): Ich bin nicht krank, ich kann schreiben (Gott giebt es nicht; Eklektizismus von mir, obwohl ich sprachlich heute eher Felice drauf hatte als Franz).

Es gibt in dem Roman nur zwei Fragmente
Im Textkorpus oder vielleicht besser Romankörper: "Kaufmann Block/Kündigung des Advokaten" (Seiten 175 - 208) und das so genannte Fragment "Kampf mit dem Direktor-Stellvertreter" (Seiten 263 - 267), das durch ein Wort beendet werden konnte, könnte: "...'Schlechtes Holz', sagte der Direktor-Stellvertreter ärgerlich, ließ vom Schreibtisch ab und setzte" (a.a.O., S. 267) sich.
Das würde als Dokument der Ungleichstellung vom Prokuristen (Josef K.) und dem Direktor-Stellvertreter ausreichen, obwohl K. sich anfänglich stark fühlte, ihm Paroli zu bieten. Aber auch dann wäre die ganze Angelegenheit redundant, überflüssig, eine Sackgasse zwar nicht, aber sinnfällig erst bei weiterer Ausführung, einer Fortführung des Prozesses ins Unendliche (wie beim Verschollenen erwogen): "Das letzte Jahr im Leben des Josef K."
So könnte man das erstgenannte Kapitel dann durchaus als beendet ansehen, wenn danach die Formulierung der Kündigung im Folgekapitel ausgeführt würde (analog zu sehen zum Kapitel "Fahrt nach Ramses" im "Verschollenen", denn die Stadt wird auch erst im "Hotel Occidental" benannt). Aber dann wäre der Roman ja tatsächlich unbeendet, während ein Satz genügen würde, um die Logik aufrecht zu erhalten: "'Block', sagte Leni in warnendem Ton und zog ihn am Rockkragen ein wenig in die Höhe. 'Lass jetzt das Fell und höre dem Advokaten zu.'" A.a.O., S. 208: Josef K. hatte jetzt genug gehört, er wusste dass die weitern Ausführungen des Advokaten nur Verschleierung waren, er schrie aus: "Ich entziehe Ihnen mein Mandat!" Und er stürzte zur Tür, Leni folgte ihm; der Advokat schrie ihr hinterher, aber sie begleitete Josef zur Tür, der doch noch sagte, dass sie sich bei ihm melden dürfe, bevor er noch einen flüchtigen Kuss von ihr erhielt und nach Hause eilte.
Es war für Kafka nicht leicht in all den Handschriften durch zu steigen, den verschiedenen Manuskriptteilen, das ist bei gedruckten Werken schon nicht so leicht, nur bei Texten, die man digital schriftlich zur Verfügung hat, wo man einzelne Worte dann per Textprogramm suchen lassen kann. Das macht das leichter.
Brod soll den Roman in der Erstausgabe unfragmentarisch raus gegeben haben, in der Variante, die ich las, waren sogar, so glaube ich, die durchgestrichenen Passagen enthalten.
Zum Nachwort von Malcolm Pasley möchte ich nur bemerken, dass es was die "Elf" anbelangt Konfuzius ist, er ahnungslos, obwohl Malcolm wohl einen großen Namen in dem Metier hat (hatte?): Mitherausgeber der Kritischen Kafka Ausgabe im Fischer Verlag war er wohl, zumindest einiger Bände. Tja, wenn man nicht Deutsch kann: "'K. war pünktlich gekommen, gerade bei seinem Eintritt hatte es elf geschlagen, der Italiener war aber noch nicht hier.' (S. 216) An dieser Stelle hat Brod die 11 - offenbar wiederum in der Annahme dass sich der Autor verschrieben hat - zu einer 10 geändert. Dabei ist jedoch jener unheimliche 'Zeitrutsch' verkannt worden, der sowohl in diesem Kapitel wie auch schon im Kapitel 'Erste Untersuchung' den Übergang aus der öffentlichen Sphäre in eine private Sphäre andeutet. Nach Josef K.'s 'privater Zeitmessung' ist es allerdings zehn: erst nachdem er eine Stunde im Dom verbracht hat, zeigt seine eigene Uhr (wie uns der Erzähler sorgfältig mitteilt) auf elf." Vielleicht hat er sich auch beim Glockenschlag geirrt, verhört, verzählt, oder der Glöckner?
Unsinn, in der realen Zeit wäre es 10, nicht in Josef K.'s, da elf-elf-elf: Und warum hat ihn das nicht verwirrt? Hej, meine Uhr ist stehen geblieben, that's it! Oder den Erzähler?
Das ist aber eine Kritik an der Brodschen Fassung des letzten Kapitels, die Pasley vorbringt, nicht an der Kafkaschen Handschrift.
Pasley bringt auch noch andere Beispiele der Zeitmetapher, z.B. dass in "Gibs auf!" die Turmuhr schon viel später anzeigte, als der zum Bahnhof eilende Akteur glaubte, aber den Glaubensaspekt wischt Pasley beiseite: "Ein Kommentar" (Franz Kafka: "Das Ehepaar und andere Schriften aus dem Nachlass", Frankfurt am Main 1994, Seite 130).
Gute Kafka-Zitate, aber nicht gute Stützen für Pasleys These: a.a.O., S. 284 f.

Anthony Northey
"Kafkas Mischpoche", kuhles Wort, stammt das nicht von dem?
Wenn die Namen so gehn, ja.

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