Flucht/Unternehmen
25
Eines
Morgens schob Josie den Krankenwagen, in dem Brunelda saß, aus dem
Haustor. Es war nicht mehr so früh, wie er gehofft hatte. Sie waren
übereingekommen, die Auswanderung noch in der Nacht zu
bewerkstelligen, um in den Gassen kein Aufsehen zu erregen, das bei
Tag unvermeidlich gewesen wäre, so bescheiden auch Brunelda mit
einem großen, grauen Tuch sich bedecken wollte. Aber der Transport
über die Treppe hatte zu lange gedauert, trotz der bereitwilligsten
Mithilfe des Studenten, der viel schwächer als Josie war, wie sich
bei dieser Gelegenheit herausstellte. Brunelda hielt sich sehr
tapfer, seufzte kaum und suchte ihren Trägern die Arbeit auf alle
Weise zu erleichtern. Aber es ging doch nicht anders, als dass man
sie auf jeder fünften Treppenstufe nieder setzte, um sich selbst und
ihr die Zeit zum notwendigsten Ausruhen zu gönnen. Es war ein kühler
Morgen, auf den Gängen wehte kalte Luft, wie in Kellern, aber Josie
und der Student waren ganz in Schweiß und mussten während der
Ruhepausen jeder ein Zipfel von Bruneldas Tuch, das sie ihnen
übrigens freundlich reichte, nehmen, um das Gesicht zu trocknen. So
kam es, dass sie erst nach zwei Stunden unten anlangten, wo schon vom
Abend her das Wägelchen stand. Das Hineinheben Bruneldas gab noch
eine gewisse Arbeit, dann aber durfte man das Ganze für gelungen
ansehn, denn das Schieben des Wagens musste dank den hohen Rädern
nicht schwer sein und es blieb nur die Befürchtung, dass der Wagen
unter Brunelda aus den Fugen gehen würde. Diese Gefahr musste man
allerdings auf sich nehmen, man konnte nicht einen Ersatzwagen
mitführen, zu dessen Bereitstellung und Führung der Student halb im
Scherz sich angeboten hatte. Es erfolgte nun die Verabschiedung vom
Studenten, die sogar sehr herzlich war. Alle Nichtübereinstimmung
zwischen Brunelda und dem Studenten schien vergessen, er
entschuldigte sich sogar wegen der alten Beleidigung Bruneldas, die
er sich bei ihrer Krankheit hatte zu Schulden kommen lassen, aber
Brunelda sagte, alles sei längst vergessen und mehr als gut gemacht.
Schließlich bat sie den Studenten, er möge zum Andenken an sie
einen Dollar freundlichst annehmen, den sie mühselig aus ihren
vielen Röcken hervor suchte. Dieses Geschenk war bei Bruneldas
bekanntem Geiz sehr bedeutungsvoll, der Student hatte auch wirklich
große Freude davon und warf vor Freude die Münze hoch in die Luft.
Dann allerdings musste er sie auf dem Boden suchen und Josie musste
ihm helfen, schließlich fand sie auch Josie unter dem Wagen
Bruneldas. Der Abschied zwischen dem Studenten und Josie war
natürlich viel einfacher, sie reichten einander nur die Hand und
sprachen die Überzeugung aus, dass sie einander wohl noch einmal
sehen würden und dass dann wenigstens einer von ihnen — der
Student behauptete es von Josie, Josie vom Studenten — etwas
Rühmenswertes erreicht haben würde, was bisher leider nicht der
Fall war. Dann fasste Josie mit gutem Mut den Griff des Wagens und
schob ihn aus dem Tor. Der Student sah ihnen solange nach, als sie
noch zu sehen waren und winkte mit einem Tuch. Josie nickte oft
grüßend zurück, auch Brunelda hätte sich gerne umgewendet, aber
solche Bewegungen waren für sie zu anstrengend. Um ihr doch noch
einen letzten Abschied zu ermöglichen, führte Josie am Ende der
Straße den Wagen in einem Kreis herum, so dass auch Brunelda den
Studenten sehen konnte, der diese Gelegenheit ausnützte, um mit dem
Tuch besonders eifrig zu winken.
Dann
aber sagte Josie, jetzt dürften sie sich keinen Aufenthalt mehr
gönnen, der Weg sei lang und sie seien viel später ausgefahren, als
es beabsichtigt war. Tatsächlich sah man schon hier und da Fuhrwerke
und, wenn auch sehr vereinzelt, Leute, die zur Arbeit gingen. Josie
hatte mit seiner Bemerkung nichts weiter sagen wollen, als was er
wirklich gesagt hatte, Brunelda aber fasste es in ihrem Zartgefühl
anders auf und bedeckte sich ganz und gar mit ihrem grauen Tuch.
Josie wendete nichts dagegen ein; der mit einem grauen Tuch bedeckte
Handwagen war zwar sehr auffällig, aber unvergleichlich weniger
auffällig als die unbedeckte Brunelda gewesen wäre. Er fuhr sehr
vorsichtig; ehe er um eine Ecke bog, beobachtete er die nächste
Straße, ließ sogar, wenn es nötig schien, den Wagen stehn und ging
allein paar Schritte voraus; sah er irgendeine, vielleicht
unangenehme Begegnung voraus, so wartete er, bis sie sich vermeiden
ließ oder wählte sogar den Weg durch eine ganz andere Straße.
Selbst dann kam er, da er alle möglichen Wege vorher genau studiert
hatte, niemals in die Gefahr, einen bedeutenden Umweg zu machen.
Allerdings erschienen Hindernisse, die zwar zu befürchten gewesen
waren, sich aber im Einzelnen nicht hatten vorhersehen lassen. So
trat plötzlich in einer Straße, die leicht ansteigend, weit zu
überblicken und erfreulicherweise vollständig leer war, ein
Vorteil, den Josie durch besondere Eile auszunützen suchte, aus dem
dunklen Winkel eines Haustors ein Polizeimann und fragte Josie, was
er denn in dem so sorgfältig verdeckten Wagen führe. So streng er
aber Josie angesehen hatte, so musste er doch lächeln, als er die
Decke lüftete und das erhitzte, ängstliche Gesicht Bruneldas
erblickte. "Wie?" sagte er. "Ich dachte, du hättest
hier zehn Kartoffelsäcke und jetzt ist es ein einziges Frauenzimmer?
Wohin fahrt ihr denn? Wer seid ihr?" Brunelda wagte gar nicht,
den Polizeimann anzusehen, sondern blickte nur immer auf Josie, mit
dem deutlichen Zweifel, dass selbst er sie nicht werde erretten
können. Josie hatte aber schon genug Erfahrungen mit Polizisten, ihm
schien das ganze nicht sehr gefährlich. "Zeigen Sie doch,
Fräulein", sagte er, "das Schriftstück, das Sie bekommen
haben." "Ach ja", sagte Brunelda und begann in einer
so hoffnungslosen Weise zu suchen, dass sie wirklich verdächtig
erscheinen musste. "Das Fräulein", sagte der Polizeimann
mit zweifelloser Ironie, "wird das Schriftstück nicht finden."
"Oh ja", sagte Josie ruhig, "sie hat es bestimmt, sie
hat es nur verlegt." Er begann nun selbst zu suchen und zog es
tatsächlich hinter Bruneldas Rücken hervor. Der Polizeimann sah es
nur flüchtig an. "Das ist es also", sagte der Polizeimann
lächelnd, "so ein Fräulein ist das Fräulein? Und Sie,
Kleiner, besorgen die Vermittlung und den Transport? Wissen Sie
wirklich keine bessere Beschäftigung zu finden?" Josie zuckte
bloß die Achseln, das waren wieder die bekannten Einmischungen der
Polizei. "Na, glückliche Reise", sagte der Polizeimann,
als er keine Antwort bekam. In den Worten des Polizeimanns lag
wahrscheinlich Verachtung, dafür fuhr auch Josie ohne Gruß weiter,
Verachtung der Polizei war besser als ihre Aufmerksamkeit.
Kurz
darauf hatte er eine womöglich noch unangenehmere Begegnung. Es
machte sich nämlich an ihn ein Mann heran, der einen Wagen mit
großen Milchkannen vor sich herschob und äußerst gern erfahren
hätte, was unter dem grauen Tuch auf Josies Wagen lag. Es war nicht
anzunehmen, dass er den gleichen Weg wie Josie hatte, dennoch aber
blieb er ihm zur Seite, so überraschende Wendungen Josie auch
machte. Zuerst begnügte er sich mit Ausrufen, wie z.B. "Du
musst eine schwere Last haben" oder "Du hast schlecht
aufgeladen, oben wird etwas herausfallen." Später aber fragte
er geradezu: "Was hast du denn unter dem Tuch?" Josie
sagte: "Was kümmert's dich?" Aber da das den Mann noch
neugieriger machte, sagte Josie schließlich: "Es sind Äpfel."
"So viel Äpfel", sagte der Mann staunend und hörte nicht
auf, diesen Ausruf zu wiederholen. "Das ist ja eine ganze
Ernte", sagte er dann. "Nun ja", sagte Josie. Aber sei
es, dass er Josie nicht glaubte, sei es, dass er ihn ärgern wollte,
er ging noch weiter, begann — alles während der Fahrt — die Hand
wie zum Scherz nach dem Tuch auszustrecken und wagte es endlich
sogar, an dem Tuch zu zupfen. Was musste Brunelda leiden! Aus
Rücksicht auf sie wollte sich Josie in keinen Streit mit dem Mann
einlassen und fuhr in das nächste, offene Tor ein, als sei dies sein
Ziel gewesen. "Hier bin ich zuhause", sagte er, "Dank
für die Begleitung." Der Mann blieb erstaunt vor dem Tor stehen
und sah Josie nach, der ruhig daranging, wenn es sein musste, den
ganzen ersten Hof zu durchqueren. Der Mann konnte nicht mehr
zweifeln, aber um seiner Bosheit ein letztes Mal zu genügen, ließ
er seinen Wagen stehen, lief Josie auf den Fußspitzen nach und riss
so stark an dem Tuch, dass er Bruneldas Gesicht fast entblößt
hätte. "Damit deine Äpfel Luft bekommen", sagte er und
lief zurück. Auch das nahm Josie noch hin, da es ihn endgültig von
dem Mann befreite. Er führte dann den Wagen in einen Hofwinkel, wo
einige große leere Kisten standen, in deren Schutz er unter dem Tuch
Brunelda einige beruhigende Worte sagen wollte. Aber er musste lange
auf sie einreden, denn sie war ganz in Tränen und flehte ihn allen
Ernstes an, hier hinter den Kisten den ganzen Tag zu bleiben und erst
in der Nacht weiter zu fahren. Vielleicht hätte er allein sie gar
nicht davon überzeugen können, wie verfehlt das gewesen wäre, als
aber jemand am andern Ende des Kistenhaufens eine leere Kiste unter
ungeheuerem, im leeren Hof widerhallenden Lärm zu Boden warf,
erschrak sie so, dass sie ohne ein Wort mehr zu wagen, das Tuch über
sich zog und wahrscheinlich glückselig war, als Josie kurz
entschlossen sofort zu fahren begann.
Die
Straßen wurden jetzt zwar immer belebter, aber die Aufmerksamkeit,
die der Wagen erregte, war nicht so groß, wie Josie befürchtet
hatte. Vielleicht wäre es überhaupt klüger gewesen, eine andere
Zeit für den Transport zu wählen. Wenn eine solche Fahrt wieder
nötig werden sollte, wollte sich Josie getrauen, sie in der
Mittagsstunde auszuführen. Ohne schwerer belästigt worden zu sein,
bog er endlich in die schmale, dunkle Gasse ein, in der das
Unternehmen Nr. 25 sich befand. Vor der Tür stand der schielende
Verwalter mit der Uhr in der Hand. "Bist du immer so
unpünktlich?" fragte er. "Es gab verschiedene
Hindernisse", sagte Josie. "Die gibt es bekanntlich immer",
sagte der Verwalter. "Hier im Haus gelten sie aber nicht. Merk
dir das!" Auf solche Reden hörte Josie kaum mehr hin, jeder
nützte seine Macht aus und beschimpfte den Niedrigen. War man einmal
daran gewöhnt, klang es nicht anders, als das regelmäßige
Uhrenschlagen. Wohl aber erschreckte ihn, als er jetzt den Wagen in
den Flur schob, der Schmutz, der hier herrschte und den er allerdings
erwartet hatte. Es war, wenn man näher zusah, kein fassbarer
Schmutz. Der Steinboden des Flurs war fast rein gekehrt, die Malerei
der Wände nicht alt, die künstlichen Palmen nur wenig verstaubt,
und doch war alles fettig und abstoßend, es war, als wäre von allem
ein schlechter Gebrauch gemacht worden und als wäre keine
Reinlichkeit mehr im Stande, das wieder gut zu machen. Josie dachte
gern, wenn er irgendwohin kam, darüber nach, was hier verbessert
werden könne und welche Freude es sein müsste, sofort einzugreifen,
ohne Rücksicht auf die vielleicht endlose Arbeit, die es verursachen
würde. Hier aber wusste er nicht, was zu tun wäre. Langsam nahm er
das Tuch von Brunelda ab. "Willkommen, Fräulein", sagte
der Verwalter geziert, es war kein Zweifel, dass Brunelda einen guten
Eindruck auf ihn machte. Sobald Brunelda dies merkte, verstand sie
das, wie Josie befriedigt sah, gleich auszunützen. Alle Angst der
letzten Stunden verschwand.
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