Polizeimann/Polizisten/Ohne
Papiere/Verhör/Flucht/Endlose
Treppen/Brunelda/Hund/Sängerin/Parfümflasche/Umzug/Posten/Schreie
und Singen/Der Student/Wahlkampf in Amerika/Getöse in der
Nacht/Kampf/Besinnung/Student/Büroarbeit
Es
musste wohl eine entlegene Vorstadtstraße sein, in der das Automobil
Halt machte, denn ringsum herrschte Stille, am Trottoirrand hockten
Kinder und spielten, ein Mann mit einer Menge alter Kleider über den
Schultern rief beobachtend zu den Fenstern der Häuser empor; in
seiner Müdigkeit fühlte sich Josie unbehaglich, als er aus dem
Automobil auf den Asphalt trat, den die Vormittagssonne warm und hell
beschien. "Wohnst du wirklich hier?" rief er ins Automobil
hinein. Robinson, der während der ganzen Fahrt friedlich geschlafen
hatte, brummte irgendeine undeutliche Bejahung und schien darauf zu
warten, dass Josie ihn hinaus tragen werde. "Dann habe ich hier
also nichts mehr zu tun. Leb wohl", sagte Josie und machte sich
daran, die ein wenig sich senkende Straße abwärts zu gehn. "Aber
Josie, was fällt dir denn ein?" rief Robinson und stand schon
vor lauter Sorge ziemlich aufrecht, nur mit noch etwas unruhigen
Knien, im Wagen. "Ich muss doch gehen", sagte Josie, der
der raschen Gesundung Robinsons zugesehen hatte. "In
Hemdsärmeln?" fragte dieser. "Ich werde mir schon noch
einen Rock verdienen", antwortete Josie, nickte Robinson
zuversichtlich zu, grüßte mit erhobener Hand und wäre nun wirklich
fort gegangen, wenn nicht der Chauffeur gerufen hätte: "Noch
einen kleinen Augenblick Geduld, mein Herr." Es zeigte sich
unangenehmer Weise, dass der Chauffeur noch Ansprüche auf eine
nachträgliche Bezahlung stellte, denn die Wartezeit vor dem Hotel
war noch nicht bezahlt. "Nun ja", rief aus dem Automobil
Robinson in Bestätigung der Richtigkeit dieser Forderung, "ich
habe ja dort so lange auf dich warten müssen. Etwas musst du ihm
noch geben." "Ja, freilich", sagte der Chauffeur. "Ja,
wenn ich nur noch etwas hätte", sagte Josie und griff in die
Hosentaschen, trotzdem er wusste, dass es nutzlos war. "Ich kann
mich nur an Sie halten", sagte der Chauffeur und stellte sich
breitbeinig auf, "von dem kranken Mann dort kann ich nichts
verlangen." Vom Tor her näherte sich ein junger Bursche mit
zerfressener Nase und aus einer Entfernung von paar Schritten zu.
Gerade machte durch die Straße ein Polizeimann die Runde, fasste mit
gesenktem Gesicht den hemdsärmligen Menschen ins Auge und blieb
stehen. Robinson, der den Polizeimann auch bemerkt hatte, machte die
Dummheit, aus dem andern Fenster ihm zuzurufen: "Es ist nichts,
es ist nichts", als ob man einen Polizeimann wie eine Fliege
verscheuchen könnte. Die Kinder, welche den Polizeimann beobachtet
hatten, wurden nun durch sein Stillstehn auch auf Josie und den
Chauffeur aufmerksam und liefen im Trab herbei. Im Tor gegenüber
stand eine alte Frau und sah starr herüber.
"Rossmann",
rief da eine Stimme aus der Höhe. Es war Delamarche, der das vom
Balkon des letzten Stockwerks rief. Er selbst war nur schon recht
undeutlich gegen den weißlich blauen Himmel zu sehen, hatte offenbar
einen Schlafrock an und beobachtete mit einem Operngucker die Straße.
Neben ihm war ein roter Sonnenschirm aufgespannt, unter dem eine Frau
zu sitzen schien. "Hallo", rief er mit größter
Anstrengung, um sich verständlich zu machen, "ist Robinson auch
da?" "Ja", antwortete Josie, von einem zweiten, viel
lauterem "Ja" Robinsons aus dem Wagen kräftig unterstützt.
"Hallo", rief es zurück, "ich komme gleich."
Robinson beugte sich aus dem Wagen. "Das ist ein Mann",
sagte er und dieses Lob Delamarches war an Josie gerichtet, an den
Chauffeur, an den Polizeimann und an jeden, der es hören wollte.
Oben auf dem Balkon, den man aus Zerstreutheit noch ansah, trotzdem
ihn Delamarche schon verlassen hatte, erhob sich nun unter dem
Sonnenschirm tatsächlich eine starke Frau in rotem Kleid, nahm den
Operngucker von der Brüstung und sah durch ihn auf die Leute
hinunter, die nur allmählich die Blicke von ihr wendeten. Josie sah
in Erwartung des Delamarche in das Haustor und weiterhin in den Hof,
den eine fast ununterbrochene Reihe von Geschäftsdienern
durchquerte, von denen jeder eine kleine, aber offenbar sehr schwere
Kiste auf der Achsel trug. Der Chauffeur war zu seinem Wagen getreten
und putzte, um die Zeit auszunützen, mit einem Fetzen die
Wagenlaternen. Robinson befühlte seine Gliedmaßen, schien erstaunt
über die geringen Schmerzen zu sein, die er trotz größter
Aufmerksamkeit fühlen konnte und begann vorsichtig mit tief
geneigtem Gesicht einen der dicken Verbände am Bein zu lösen. Der
Polizeimann hielt sein schwarzes Stöckchen quer vor sich und wartete
still mit der großen Geduld, die Polizeileute haben müssen, ob sie
im gewöhnlichen Dienst oder auf der Lauer sind. Der Bursche mit der
zerfressenen Nase setzte sich auf einen Torstein und streckte die
Beine von sich. Die Kinder näherten sich Josie allmählich mit
kleinen Schritten, denn dieser schien ihnen, trotzdem er sie nicht
beachtete, wegen seiner blauen Hemdsärmel der wichtigste von allen
zu sein.
An
der Länge der Zeit, die bis zur Ankunft Delamarches verging, konnte
man die große Höhe dieses Hauses ermessen. Und Delamarche kam sogar
sehr eilig, mit nur flüchtig zugezogenem Schlafrock. "Also, da
seid ihr!" rief er, erfreut und streng zugleich. Bei seinen
großen Schritten enthüllte sich stets für einen Augenblick seine
farbige Unterkleidung. Josie begriff nicht ganz, warum Delamarche
hier in der Stadt, in der riesigen Mietskaserne, auf der offenen
Straße so bequem angezogen herum ging, als sei er in seiner
Privatvilla. Ebenso wie Robinson hatte auch Delamarche sich sehr
verändert. Sein dunkles, glatt rasiertes, peinlich reines, von roh
ausgearbeiteten Muskeln gebildetes Gesicht sah stolz und Respekt
einflößend aus. Der grelle Schein seiner jetzt immer etwas
zusammengezogenen Augen überraschte. Sein violetter Schlafrock war
zwar alt, fleckig und für ihn zu groß, aber aus diesem hässlichen
Kleidungsstück bauschte sich oben eine mächtige, dunkle Krawatte
aus schwerer Seide. "Nun?" fragte er alle insgesamt. Der
Polizeimann trat ein wenig näher und lehnte sich an den Motorkasten
des Automobils. Josie gab eine kleine Erklärung. "Robinson ist
ein wenig marod, aber wenn er sich Mühe gibt, wird er schon die
Treppen hinauf gehn können; der Chauffeur hier will noch eine
Nachzahlung zum Fahrtgeld, das ich schon bezahlt habe. Und jetzt gehe
ich. Guten Tag." "Du gehst nicht", sagte Delamarche.
"Ich habe es ihm auch schon gesagt", meldete sich Robinson
aus dem Wagen. "Ich gehe doch", sagte Josie und machte ein
paar Schritte. Aber Delamarche war schon hinter ihm und schob ihn mit
Gewalt zurück. "Ich sage, du bleibst", rief er. "Aber
lasst mich doch", sagte Josie und machte sich bereit, wenn es
nötig sein sollte, mit den Fäusten sich die Freiheit zu
verschaffen, so wenig Aussicht auf Erfolg gegenüber einem Mann wie
Delamarche auch war. Aber da stand doch der Polizeimann, da war der
Chauffeur, hier und da gingen Arbeitergruppen durch die sonst
freilich ruhige Straße, würde man es denn dulden, dass ihm von
Delamarche ein Unrecht geschehe? In einem Zimmer hätte er mit ihm
nicht allein sein wollen, aber hier? Delamarche zahlte jetzt ruhig
dem Chauffeur, der unter vielen Verbeugungen den unverdient großen
Betrag einsteckte und aus Dankbarkeit zu Robinson ging und mit diesem
offenbar darüber sprach, wie er am besten heraus befördert werden
könnte. Josie sah sich unbeobachtet, vielleicht duldete Delamarche
ein stillschweigendes Fortgehn leichter, wenn Streit vermieden werden
konnte, war es natürlich am besten und so ging Josie einfach in die
Fahrbahn hinein, um möglichst rasch weg zu kommen. Die Kinder
strömten zu Delamarche, um ihn auf Josies Flucht aufmerksam zu
machen, aber er musste selbst gar nicht eingreifen, denn der
Polizeimann sagte mit vorgestrecktem Stabe "Halt!" "Wie
heißt du", fragte er, schob den Stab unter den Arm und zog
langsam ein Buch hervor. Josie sah ihn jetzt zum ersten Mal genauer
an, es war ein kräftiger Mann, hatte aber schon fast ganz weißes
Haar. "Josie Rossmann", sagte er. "Rossmann",
wiederholte der Polizeimann, zweifellos nur, weil er ein ruhiger und
gründlicher Mensch war, aber Josie, der hier eigentlich zum ersten
Mal mit amerikanischen Behörden zu tun bekam, sah schon in dieser
Wiederholung das Aussprechen eines gewissen Verdachtes. Und
tatsächlich konnte seine Sache nicht gut stehn, denn selbst
Robinson, der doch so sehr mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt
war, bat aus dem Wagen heraus mit stummen, lebhaften Handbewegungen
Delamarche, er möge Josie doch helfen. Aber Delamarche wehrte ihn
mit hastigem Kopfschütteln ab und sah untätig zu, die Hände in
seinen übergroßen Taschen. Der Bursche auf dem Türstein erklärte
einer Frau, die jetzt erst aus dem Tore trat, den ganzen Sachverhalt
von allem Anfang an. Die Kinder standen in einem Halbkreis hinter
Josie und sahen still zum Polizeimann hinauf: "Zeig deine
Ausweispapiere", sagte der Polizeimann. Das war wohl nur eine
formelle Frage, denn wenn man keinen Rock hat, wird man auch nicht
viel Ausweispapiere bei sich haben. Josie schwieg deshalb, auch um
lieber auf die nächste Frage ausführlich zu antworten und so den
Mangel der Ausweispapiere möglichst zu vertuschen. Aber die nächste
Frage war: "Du hast also keine Ausweispapiere?" Und Josie
musste nun antworten: "Bei mir nicht." "Das ist aber
schlimm", sagte der Polizeimann, sah nachdenklich im Kreise
umher und klopfte mit zwei Fingern auf den Deckel seines Buches.
"Hast du irgendeinen Verdienst?" fragte der Polizeimann
schließlich. "Ich war Liftjunge", sagte Josie. "Du
warst Liftjunge, bist es also nicht mehr, und wovon lebst du denn
jetzt?" "Jetzt werde ich mir eine neue Arbeit suchen."
"Ja, bist du denn jetzt entlassen worden?" "Ja, vor
einer Stunde." "Plötzlich?" "Ja", sagte
Josie und hob wie zur Entschuldigung die Hand. Die ganze Geschichte
konnte er hier nicht erzählen und wenn es auch möglich gewesen
wäre, so schien es doch ganz aussichtslos, ein drohendes Unrecht
durch Erzählung eines erlittenen Unrechtes abzuwehren. Und wenn er
sein Recht nicht von der Güte der Oberköchin und von der Einsicht
des Oberkellners erhalten hatte, von der Gesellschaft hier auf der
Straße hatte er es gewiss nicht zu erwarten.
"Und
ohne Rock bist du entlassen worden?" fragte der Polizeimann.
"Nun ja", sagte Josie, also auch in Amerika gehörte es zur
Art der Behörden, das, was sie sahen, noch eigens zu fragen. Wie
hatte sein Vater bei der Beschaffung des Reisepasses über die
nutzlose Fragerei der Behörden sich ärgern müssen. Josie hatte
große Lust weg zu laufen, sich irgendwo zu verstecken und keine
Fragen mehr anhören zu müssen. Und nun stellte gar der Polizeimann
jene Frage, vor der sich Josie am meisten gefürchtet und in deren
unruhiger Voraussicht er sich bisher wahrscheinlich unvorsichtiger
benommen hatte, als es sonst geschehen wäre: "In welchem Hotel
warst du denn angestellt?" Er senkte den Kopf und antwortete
nicht, auf diese Frage wollte er unbedingt nicht antworten. Es durfte
nicht geschehn, dass er von einem Polizeimann eskortiert wieder ins
Hotel Occidental zurück käme, dass dort Verhöre stattfanden, zu
denen seine Freunde und Feinde beigezogen würden, dass die
Oberköchin ihre schon sehr schwach gewordene gute Meinung über
Josie gänzlich aufgab, da sie ihn, den sie in der Pension Brenner
vermutete, von einem Polizeimann aufgegriffen, in Hemdsärmeln, ohne
ihre Visitenkarte zurückgekehrt fand, während der Oberkellner
vielleicht nur voll Verständnis nicken, der Oberportier dagegen von
der Hand Gottes sprechen würde, die den Lumpen endlich gefunden
habe.
"Er
war im Hotel Occidental angestellt", sagte Delamarche und trat
an die Seite des Polizeimanns. "Nein", rief Josie und
stampfte mit dem Fuße auf, "es ist nicht wahr." Delamarche
sah ihn mit spöttisch zugespitztem Munde an, als könne er noch ganz
andere Dinge verraten. Unter die Kinder brachte die unerwartete
Aufregung Josies große Bewegung und sie zogen zu Delamarche hin, um
lieber von dort aus Josie genau anzusehn. Robinson hatte den Kopf
völlig aus dem Wagen gesteckt und verhielt sich vor Spannung ganz
ruhig; hier und da ein Augenzwinkern war seine einzige Bewegung. Der
Bursche im Tor schlug in die Hände vor Vergnügen, die Frau neben
ihm gab ihm einen Stoß mit dem Ellbogen, damit er ruhig sei. Die
Gepäckträger hatten gerade Frühstückspause und erschienen
sämtlich mit großen Töpfen schwarzen Kaffees, in dem sie mit
Stangenbroten herum rührten. Einige setzten sich auf den
Trottoirrand, alle schlürften den Kaffee sehr laut.
"Sie
kennen wohl den Jungen", fragte der Polizeimann Delamarche.
"Besser als mir lieb ist", sagte dieser. "Ich habe ihm
zu seiner Zeit viel Gutes getan, er aber hat sich dafür sehr
schlecht bedankt, was Sie wohl, selbst nach dem ganz kurzen Verhör,
das Sie mit ihm angestellt haben, leicht begreifen werden."
"Ja", sagte der Polizeimann, "es scheint ein
verstockter Junge zu sein." "Das ist er", sagte
Delamarche, "aber es ist das noch nicht seine schlechteste
Eigenschaft." "So?" sagte der Polizeimann. "Ja",
sagte Delamarche, der nun im Reden war und dabei mit den Händen in
den Taschen seinen ganzen Mantel in schwingende Bewegung brachte,
"das ist ein feiner Hecht. Ich und mein Freund dort im Wagen,
wir haben ihn zufällig im Elend aufgegriffen, er hatte damals keine
Ahnung von amerikanischen Verhältnissen, er kam gerade aus Europa,
wo man ihn auch nicht hatte brauchen können, nun wir schleppten ihn
mit uns, ließen ihn mit uns leben, erklärten ihm alles, wollten ihm
einen Posten verschaffen, dachten trotz aller Anzeichen, die dagegen
sprachen, noch einen brauchbaren Menschen aus ihm zu machen, da
verschwand er einmal in der Nacht, war einfach weg und das unter
Begleitumständen, die ich lieber verschweigen will. War es so oder
nicht?" fragte Delamarche schließlich und zupfte Josie am
Hemdsärmel. "Zurück ihr Kinder", rief der Polizeimann,
denn diese hatten sich so weit vorgedrängt, dass Delamarche fast
über eines gestolpert wäre. Inzwischen waren auch die Gepäckträger,
die bisher die Interessantheit dieses Verhörs unterschätzt hatten,
aufmerksam geworden und hatten sich in dichtem Ring hinter Josie
versammelt, der nun auch nicht einen Schritt hätte zurücktreten
können und überdies unaufhörlich in den Ohren das Durcheinander
der Stimmen dieser Gepäckträger hatte, die in einem gänzlich
unverständlichen, vielleicht mit slawischen Worten untermischten
Englisch mehr polterten als redeten.
"Danke
für die Auskunft", sagte der Polizeimann und salutierte vor
Delamarche. "Jedenfalls werde ich ihn mitnehmen und dem Hotel
Occidental zurückgeben lassen." Aber Delamarche sagte: "Dürfte
ich die Bitte stellen, mir den Jungen vorläufig zu überlassen, ich
hätte einiges mit ihm in Ordnung zu bringen. Ich verpflichte mich,
ihn dann selbst ins Hotel zurückzuführen." "Das kann ich
nicht tun", sagte der Polizeimann. Delamarche sagte: "Hier
ist meine Visitenkarte", und reichte ihm ein Kärtchen. Der
Polizeimann sah es anerkennend an, sagte aber verbindlich lächelnd:
"Nein, es ist vergeblich."
So
sehr sich Josie bisher vor Delamarche gehütet hatte, jetzt sah er in
ihm die einzig mögliche Rettung. Es war zwar verdächtig, wie sich
dieser beim Polizeimann um Josie bewarb, aber jedenfalls würde sich
Delamarche leichter als der Polizeimann bewegen lassen, ihn nicht ins
Hotel zurückzuführen. Und selbst wenn Josie an der Hand des
Delamarche ins Hotel zurück kam, so war es viel weniger schlimm, als
wenn es in Begleitung des Polizeimannes geschah. Vorläufig aber
durfte natürlich Josie nicht zu erkennen geben, dass er tatsächlich
zu Delamarche wollte, sonst war alles verdorben. Und unruhig sah er
auf die Hand des Polizeimanns, die sich jeden Augenblick erheben
konnte, um ihn zu fassen.
"Ich
müsste doch wenigstens erfahren, warum er plötzlich entlassen
worden ist", sagte schließlich der Polizeimann, während
Delamarche mit verdrießlichem Gesicht beiseite sah und die
Visitenkarte zwischen den Fingerspitzen zerdrückte. "Aber er
ist doch gar nicht entlassen", rief Robinson zu allgemeiner
Überraschung und beugte sich auf den Chauffeur gestützt möglichst
weit aus dem Wagen. "Im Gegenteil, er hat ja dort einen guten
Posten. Im Schlafsaal ist er der oberste und kann hineinführen, wen
er will. Nur ist er riesig beschäftigt und wenn man etwas von ihm
haben will, muss man lange warten. Immerfort steckt er beim
Oberkellner, bei der Oberköchin und ist Vertrauensperson. Entlassen
ist er auf keinen Fall. Ich weiß nicht, warum er das gesagt hat. Wie
kann er denn entlassen sein? Ich habe mich im Hotel schwer verletzt
und da hat er den Auftrag bekommen, mich nach Hause zu schaffen, und
weil er gerade ohne Rock war, ist er eben ohne Rock mitgefahren. Ich
konnte nicht noch warten, bis er den Rock holt." "Nun
also", sagte Delamarche mit ausgebreiteten Armen, in einem Ton,
als werfe er dem Polizeimann Mangel an Menschenkenntnis vor, und
diese seine zwei Worte schienen in die Unbestimmtheit der Aussage
Robinsons eine widerspruchslose Klarheit zu bringen.
"Ist
das aber auch wahr?" fragte der Polizeimann schon schwächer.
"Und wenn es wahr ist, warum gibt der Junge vor entlassen zu
sein?" "Du sollst antworten", sagte Delamarche. Josie
sah den Polizeimann an, der hier zwischen fremden, nur auf sich
selbst bedachten Leuten Ordnung schaffen sollte und etwas von seinen
allgemeinen Sorgen ging auch auf Josie über. Er wollte nicht lügen
und hielt die Hände fest verschlungen auf dem Rücken.
Im
Tore erschien ein Aufseher und klatschte in die Hände, zum Zeichen,
dass die Gepäckträger wieder an ihre Arbeit gehen sollten. Sie
schütteten den Bodensatz aus ihren Kaffeetöpfen und zogen
verstummend mit schwankenden Schritten ins Haus. "So kommen wir
zu keinem Ende", sagte der Polizeimann und wollte Josie am Arm
fassen. Josie wich noch unwillkürlich ein wenig zurück, fühlte den
freien Raum, der sich ihm infolge des Abmarsches der Gepäckträger
eröffnet hatte, wandte sich um und setzte sich unter einigen großen
Anfangssprüngen in Lauf. Die Kinder brachen in einen einzigen Schrei
aus und liefen mit ausgestreckten Ärmchen paar Schritte mit. "Haltet
ihn!" rief der Polizeimann die lange, fast leere Gasse hinab und
lief unter gleichmäßigem Ausstoßen dieses Rufes in geräuschlosem,
große Kraft und Übung verratendem Lauf hinter Josie her. Es war ein
Glück für Josie, dass die Verfolgung in einem Arbeiterviertel
stattfand. Die Arbeiter halten es nicht mit den Behörden. Josie lief
mitten in der Fahrbahn, weil er dort die wenigsten Hindernisse hatte
und sah nun hier und da auf dem Trottoirrand Arbeiter stehen bleiben
und ihn ruhig beobachten, während der Polizeimann ihnen sein "Haltet
ihn!" zurief und in seinem Lauf, er hielt sich kluger Weise auf
dem glatten Trottoir, unaufhörlich den Stab gegen Josie hin
ausstreckte. Josie hatte wenig Hoffnung und verlor sie fast ganz, als
der Polizeimann nun, da sie sich Quergassen näherten, die gewiss
auch Polizeipatrouillen enthielten, geradezu betäubende Pfiffe
ausstieß. Josies Vorteil war lediglich seine leichte Kleidung, er
flog oder besser stürzte die sich immer mehr senkende Straße herab,
nur machte er zerstreut, infolge seiner Verschlafenheit, oft zu hohe,
zeitraubende und nutzlose Sprünge. Außerdem aber hatte der
Polizeimann sein Ziel ohne nachdenken zu müssen, immer vor Augen,
für Josie dagegen war der Lauf doch eigentlich Nebensache, er musste
nachdenken, unter verschiedenen Möglichkeiten auswählen, immer neu
sich entschließen. Sein etwas verzweifelter Plan war vorläufig, die
Quergassen zu vermeiden, da man nicht wissen konnte, was in ihnen
steckte, vielleicht würde er da geradewegs in eine Wachstube hinein
laufen; er wollte sich, solange es nur ging, an diese weithin
übersichtliche Straße halten, die erst tief unten in eine Brücke
auslief, die kaum begonnen in Wasser- und Sonnendunst verschwand.
Gerade wollte er sich nach diesem Entschluss zu schnellerem Lauf
zusammennehmen, um die erste Quergasse besonders eilig zu passieren,
da sah er nicht allzu weit vor sich einen Polizeimann lauernd an die
dunkle Mauer eines im Schatten liegenden Hauses gedrückt, bereit, im
richtigen Augenblick auf Josie los zu springen. Jetzt blieb keine
Hilfe, als die Quergasse, und als er gar aus dieser Gasse ganz
harmlos beim Namen gerufen wurde — es schien ihm zwar zuerst eine
Täuschung zu sein, denn ein Sausen hatte er schon die ganze Zeit
lang in den Ohren, zögerte er nicht mehr länger und bog, um die
Polizeileute möglichst zu überraschen, auf einem Fuß sich
schwenkend rechtwinklig in diese Gasse ein.
Kaum
war er zwei Sprünge weit gekommen — dass man seinen Namen gerufen
hatte, hatte er schon wieder vergessen, nun pfiff auch der zweite
Polizeimann, man merkte seine unverbrauchte Kraft, ferne Passanten in
dieser Quergasse schienen eine raschere Gangart anzunehmen — da
griff aus einer kleinen Haustüre eine Hand nach Josie und zog ihn
mit den Worten "Still sein" in einen dunklen Flur. Es war
Delamarche, ganz außer Atem, mit erhitzten Wangen, seine Haare
klebten ihm rings um den Kopf. Den Schlafrock trug er unter dem Arm
und war nur mit Hemd und Unterhose bekleidet. Die Türe, welche nicht
das eigentliche Haustor war, sondern nur einen unscheinbaren
Nebeneingang bildete, hatte er gleich geschlossen und versperrt.
"Einen Augenblick", sagte er dann, lehnte sich mit hoch
gehaltenem Kopf an die Wand und atmete schwer. Josie lag fast in
seinem Arm und drückte halb besinnungslos das Gesicht an seine
Brust. "Da laufen die Herren", sagte Delamarche und
streckte den Finger aufhorchend gegen die Tür. Wirklich liefen jetzt
die zwei Polizeileute vorbei, ihr Laufen klang in der leeren Gasse,
wie wenn Stahl gegen Stein geschlagen wird. "Du bist aber
ordentlich hergenommen", sagte Delamarche zu Josie, der noch
immer an seinem Atem würgte und kein Wort herausbringen konnte.
Delamarche setzte ihn vorsichtig auf den Boden, kniete neben ihm
nieder, strich ihm mehrmals über die Stirn und beobachtete ihn.
"Jetzt geht es schon", sagte endlich Josie und stand mühsam
auf. "Dann also los", sagte Delamarche, der seinen
Schlafrock wieder angezogen hatte und schob Josie, der noch vor
Schwäche den Kopf gesenkt hielt, vor sich her. Von Zeit zu Zeit
schüttelte er Josie, um ihn frischer zu machen. "Du willst müde
sein?" sagte er. "Du konntest doch im Freien laufen wie ein
Pferd, ich aber musste hier durch die verfluchten Gänge und Höfe
schleichen. Glücklicher Weise bin ich aber auch ein Läufer."
Vor Stolz gab er Josie einen weit ausgeholten Schlag auf den Rücken.
"Von Zeit zu Zeit ist ein solches Wettrennen mit der Polizei
eine gute Übung." "Ich war schon müde, wie ich zu laufen
anfing", sagte Josie. "Für schlechtes Laufen gibt es keine
Entschuldigung", sagte Delamarche. "Wenn ich nicht wäre,
hätten sie dich schon längst gefasst." "Ich glaube auch",
sagte Josie. "Ich bin Ihnen sehr verpflichtet." "Kein
Zweifel", sagte Delamarche.
Sie
gingen durch einen langen, schmalen Flurgang, der mit dunklen,
glatten Steinen gepflastert war. Hier und da öffnete sich rechts
oder links ein Treppenaufgang oder man erhielt einen Durchblick in
einen andern, größern Flur. Erwachsene waren kaum zu sehn, nur
Kinder spielten auf den leeren Treppen. An einem Geländer stand ein
kleines Mädchen und weinte, dass ihr vor Tränen das ganze Gesicht
glänzte. Kaum hatte sie Delamarche bemerkt, als sie mit offenem Mund
nach Luft schnappend die Treppe hinauf lief und sich erst hoch oben
beruhigte, als sie nach häufigem Umdrehn sich überzeugt hatte, dass
ihr niemand folge oder folgen wolle. "Die habe ich vor einem
Augenblick nieder gerannt", sagte Delamarche lachend und drohte
ihr mit der Faust, worauf sie schreiend weiter hinauf lief.
Auch
die Höfe, durch die sie kamen, waren fast gänzlich verlassen. Nur
hier und da schob ein Geschäftsdiener einen zweirädrigen Karren vor
sich her, eine Frau füllte an der Pumpe eine Kanne mit Wasser, ein
Briefträger durchquerte mit ruhigen Schritten den ganzen Hof, ein
alter Mann mit weißem Schnauzbart saß mit übergeschlagenen Beinen
vor einer Glastür und rauchte eine Pfeife, vor einem
Speditionsgeschäft wurden Kisten abgeladen, die unbeschäftigten
Pferde drehten gleichmütig die Köpfe, ein Mann in einem
Arbeitsmantel überwachte mit einem Papier in der Hand die ganze
Arbeit, in einem Büro war das Fenster geöffnet und ein
Angestellter, der an seinem Schreibpult saß, hatte sich von ihm
abgewendet und sah nachdenklich hinaus, wo gerade Josie und
Delamarche vorüber gingen.
"Eine
ruhigere Gegend kann man sich gar nicht wünschen", sagte
Delamarche. "Am Abend ist paar Stunden lang großer Lärm, aber
während des Tages geht es hier musterhaft zu." Josie nickte,
ihm schien die Ruhe zu groß zu sein. "Ich könnte gar nicht
anderswo wohnen", sagte Delamarche, "denn Brunelda verträgt
absolut keinen Lärm. Kennst du Brunelda? Nun, du wirst sie ja sehn.
Jedenfalls empfehle ich dir, dich möglichst still aufzuführen."
Als
sie zu der Treppe kamen, die zur Wohnung von Delamarche führte, war
das Automobil bereits weggefahren und der Bursche mit der
zerfressenen Nase meldete, ohne über Josies Wiedererscheinen
irgendwie zu staunen, er habe Robinson die Treppe hinauf getragen.
Delamarche nickte ihm bloß zu, als sei er sein Diener, der eine
selbstverständliche Pflicht erfüllt habe und zog Josie, der ein
wenig zögerte und auf die sonnige Straße sah, mit sich die Treppe
hinauf. "Wir sind gleich oben", sagte Delamarche einige
Male, während des Treppensteigens, aber seine Voraussage wollte sich
nicht erfüllen, immer wieder setzte sich an eine Treppe eine neue in
nur unmerklich veränderter Richtung an. Einmal blieb Josie sogar
stehn, nicht eigentlich vor Müdigkeit, aber vor Wehrlosigkeit
gegenüber dieser Treppenlänge. "Die Wohnung liegt ja sehr
hoch", sagte Delamarche, als sie weitergingen, "aber auch
das hat seine Vorteile. Man geht sehr selten aus, den ganzen Tag ist
man im Schlafrock, wir haben es sehr gemütlich. Natürlich kommen in
diese Höhe auch keine Besuche herauf." "Woher sollten denn
die Besuche kommen", dachte Josie.
Endlich
erschien auf einem Treppenabsatz Robinson vor einer geschlossenen
Wohnungstür und nun waren sie angelangt; die Treppe war noch nicht
einmal zu Ende, sondern führte im Halbdunkel weiter, ohne dass
irgendetwas auf ihren baldigen Abschluss hinzudeuten schien. "Ich
habe es mir ja gedacht", sagte Robinson leise, als bedrückten
ihn noch Schmerzen, "Delamarche bringt ihn! Rossmann, was wärest
du ohne Delamarche!" Robinson stand in Unterkleidung da und
suchte sich, nur so weit als es möglich war, in die kleine Bettdecke
einzuwickeln, die man ihm aus dem Hotel Occidental mitgegeben hatte;
es war nicht einzusehen, warum er nicht in die Wohnung ging, statt
hier vor möglicherweise vorüber kommenden Leuten sich lächerlich
zu machen. "Schläft sie?" fragte Delamarche. "Ich
glaube nicht", sagte Robinson, "aber ich habe doch lieber
gewartet, bis du kommst." "Zuerst müssen wir schauen, ob
sie schläft", sagte Delamarche und beugte sich zum
Schlüsselloch. Nachdem er lange, unter verschiedenartigen
Kopfdrehungen hindurch geschaut hatte, erhob er sich und sagte: "Man
sieht sie nicht genau, das Rollo ist herunter gelassen. Sie sitzt auf
dem Kanapee, vielleicht schläft sie." "Ist sie denn
krank?" fragte Josie, denn Delamarche stand da, als bitte er um
Rat. Nun aber fragte er in scharfem Tone zurück: "Krank?"
"Er kennt sie ja nicht", sagte Robinson entschuldigend.
Ein
paar Türen weiter waren zwei Frauen auf den Korridor getreten, sie
wischten die Hände an ihren Schürzen rein, sahen auf Delamarche und
Robinson und schienen sich über sie zu unterhalten. Aus einer Tür
sprang noch ein ganz junges Mädchen, mit glänzendem, blondem Haar
und schmiegte sich zwischen die zwei Frauen, indem es sich in ihre
Arme einhängte.
"Das
sind widerliche Weiber", sagte Delamarche leise, aber offenbar
nur aus Rücksicht auf die schlafende Brunelda, "nächstens
werde ich sie bei der Polizei anzeigen und werde für Jahre Ruhe von
ihnen haben. Schau nicht hin", zischte er dann Josie an, der
nichts Böses daran gefunden hatte, die Frauen anzuschauen, wenn man
nun schon einmal auf dem Gang auf das Erwachen Bruneldas warten
musste. Und ärgerlich schüttelte er den Kopf, als habe er von
Delamarche keine Ermahnungen anzunehmen und wollte, um dies noch
deutlicher zu zeigen, auf die Frauen zugehen, da hielt ihn aber
Robinson mit den Worten, "Rossmann, hüte dich", am Ärmel
zurück und Delamarche, schon durch Josie gereizt, wurde über ein
lautes Auflachen des Mädchens so wütend, dass er mit großem Anlauf
Arme und Beine werfend auf die Frauen zueilte, die jede in ihre Tür
wie weg geweht verschwanden. "So muss ich hier öfters die Gänge
reinigen", sagte Delamarche, als er mit langsamen Schritten
zurückkehrte; da erinnerte er sich an Josies Widerstand und sagte:
"Von dir aber erwarte ich ein ganz anderes Benehmen, sonst
könntest du mit mir schlechte Erfahrungen machen."
Da
rief aus dem Zimmer eine fragende Stimme in sanftem, müdem Tonfall:
"Delamarche?" "Ja", antwortete Delamarche und sah
freundlich die Tür an, "können wir eintreten?" "Oh
ja", hieß es und Delamarche öffnete, nachdem er noch die zwei
hinter ihm Wartenden mit einem Blick gestreift hatte, langsam die
Tür.
Man
trat in vollständiges Dunkel ein. Der Vorhang der Balkontüre —
ein Fenster war nicht vorhanden — war bis zum Boden herabgelassen
und wenig durchscheinend, außerdem aber trug die Überfüllung des
Zimmers mit Möbeln und herum hängenden Kleidern viel zur
Verdunkelung des Zimmers bei. Die Luft war dumpf und man roch
geradezu den Staub, der sich hier in Winkeln, die offenbar für jede
Hand unzugänglich waren, angesammelt hatte. Das erste, was Josie
beim Eintritt bemerkte, waren drei Kästen, die knapp hintereinander
aufgestellt waren.
Auf
dem Kanapee lag die Frau, die früher vom Balkon herunter geschaut
hatte. Ihr rotes Kleid hatte sich unten ein wenig verzogen und hing
in einem großen Zipfel bis auf den Boden, man sah ihre Beine fast
bis zu den Knien, sie trug dicke weiße Wollstrümpfe, Schuhe hatte
sie keine. "Das ist eine Hitze, Delamarche", sagte sie,
wendete das Gesicht von der Wand, hielt ihre Hand lässig in Schwebe
gegen Delamarche hin, der sie ergriff und küsste. Josie sah nur ihr
Doppelkinn an, das bei der Wendung des Kopfes auch mit rollte. "Soll
ich den Vorhang vielleicht hinauf ziehn lassen?" fragte
Delamarche. "Nur das nicht", sagte sie mit geschlossenen
Augen und wie verzweifelt, "dann wird es ja noch ärger."
Josie war zum Fußende des Kanapees getreten, um die Frau genauer
anzusehn, er wunderte sich über ihre Klagen, denn die Hitze war gar
nicht außerordentlich. "Warte, ich werde es dir ein wenig
bequemer machen", sagte Delamarche ängstlich, öffnete oben am
Hals paar Knöpfe und zog dort das Kleid auseinander, so dass der
Hals und der Ansatz der Brust frei wurden und ein zarter, gelblicher
Spitzensaum des Hemdes erschien. "Wer ist das", sagte die
Frau plötzlich und zeigte mit dem Finger auf Josie, "warum
starrt er mich so an?" "Du fängst bald an, dich nützlich
zu machen", sagte Delamarche und schob Josie beiseite, während
er die Frau mit den Worten beruhigte: "Es ist nur der Junge, den
ich zu deiner Bedienung mitgebracht habe." "Aber ich will
doch niemanden haben", rief sie, "warum bringst du mir
fremde Leute in die Wohnung." "Aber die ganze Zeit wünschst
du dir doch eine Bedienung", sagte Delamarche und kniete nieder;
auf dem Kanapee war trotz seiner großen Breite neben Brunelda nicht
der geringste Platz. "Ach, Delamarche", sagte sie, "du
verstehst mich nicht und verstehst mich nicht." "Dann
versteh ich dich also wirklich nicht", sagte Delamarche und nahm
ihr Gesicht zwischen beide Hände. "Aber es ist ja nichts
geschehn, wenn du willst, geht er augenblicklich fort." "Wenn
er schon einmal hier ist, soll er bleiben", sagte sie nun wieder
und Josie war ihr in seiner Müdigkeit für diese vielleicht gar
nicht freundlich gemeinten Worte so dankbar, dass er immer in
undeutlichen Gedanken an diese endlose Treppe, die er nun vielleicht
gleich wieder hätte abwärts steigen müssen, über den auf seiner
Decke friedlich schlafenden Robinson hinweg trat und trotz alles
ärgerlichen Händefuchtelns des Delamarche sagte: "Ich danke
Ihnen jedenfalls dafür, dass Sie mich ein wenig noch hier lassen
wollen. Ich habe wohl schon vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen,
dabei genug gearbeitet und verschiedene Aufregungen gehabt. Ich bin
schrecklich müde. Ich weiß gar nicht recht, wo ich bin. Wenn ich
aber ein paar Stunden geschlafen habe, können Sie mich ohne jede
sonstige Rücksichtnahme fort schicken und ich werde gerne gehn."
"Du kannst überhaupt hier bleiben", sagte die Frau und
fügte ironisch hinzu: "Platz haben wir ja im Überfluss, wie du
siehst." "Du musst also fort gehn", sagte Delamarche,
"wir können dich nicht brauchen." "Nein, er soll
bleiben", sagte die Frau nun wieder im Ernste. Und Delamarche
sagte zu Josie, wie in Ausführung dieses Wunsches: "Also, leg
dich schon irgendwo hin." "Er kann sich auf die Vorhänge
legen, aber er muss sich die Stiefel ausziehn, damit er nichts
zerreißt." Delamarche zeigte Josie den Platz, den sie meinte.
Zwischen der Türe und den drei Schränken war ein großer Haufen von
verschiedenartigsten Fenstervorhängen hingeworfen. Wenn man alle
regelmäßig zusammengefaltet, die schweren zu unterst und weiter
hinauf die leichtern gelegt und schließlich die verschiedenen in den
Haufen gesteckten Bretter und Holzringe herausgezogen hätte, so wäre
es ein erträgliches Lager geworden, so war es nur eine schaukelnde
und gleitende Masse, auf die sich aber Josie trotzdem augenblicklich
legte, denn zu besondern Schlafvorbereitungen war er zu müde und
musste sich auch mit Rücksicht auf seine Gastgeber hüten, viel
Umstände zu machen.
Er
war schon fast im eigentlichen Schlafe, da hörte er einen lauten
Schrei, erhob sich und sah Brunelda aufrecht auf dem Kanapee sitzen,
die Arme weit ausbreiten und Delamarche, der vor ihr kniete,
umschlingen. Josie, dem der Anblick peinlich war, lehnte sich wieder
zurück und versenkte sich in die Vorhänge zur Fortsetzung des
Schlafes. Dass er hier auch nicht zwei Tage aushalten würde, schien
ihm klar zu sein, desto nötiger aber war es, sich zuerst gründlich
auszuschlafen, um sich dann bei völligem Verstande schnell und
richtig entschließen zu können.
Aber
Brunelda hatte schon Josies vor Müdigkeit groß aufgerissene Augen,
die sie schon einmal erschreckt hatten, bemerkt und rief:
"Delamarche, ich halte es vor Hitze nicht aus, ich brenne, ich
muss mich ausziehn, ich muss baden, schick die Zwei aus dem Zimmer,
wohin du willst, auf den Gang, auf den Balkon, nur dass ich sie nicht
mehr sehe. Man ist in seiner eigenen Wohnung und immerfort gestört.
Wenn ich mit dir allein wäre, Delamarche. Ach, Gott, sie sind noch
immer da! Wie dieser unverschämte Robinson sich da in Gegenwart
einer Dame in seiner Unterkleidung streckt. Und wie dieser fremde
Junge, der mich vor einem Augenblick ganz wild angeschaut hat, sich
wieder gelegt hat, um mich zu täuschen. Nur weg mit ihnen,
Delamarche, sie sind mir eine Last, sie liegen mir auf der Brust,
wenn ich jetzt umkomme, ist es ihretwegen."
"Sofort
sind sie draußen, zieh dich nur schon aus", sagte Delamarche,
ging zu Robinson hin und schüttelte ihn mit dem Fuß, den er ihm auf
die Brust setzte. Gleichzeitig rief er Josie zu: "Rossmann,
aufstehn! Ihr müsst beide auf den Balkon! Und wehe euch, wenn ihr
früher hereinkommt, ehe man euch ruft! Und jetzt flink, Robinson,"
— dabei schüttelte er Robinson stärker, — "und du,
Rossmann, gib Acht, dass ich nicht auch über dich komme", dabei
klatschte er laut zweimal in die Hände. "Wie lang das dauert!"
rief Brunelda auf dem Kanapee, sie hatte beim Sitzen die Beine weit
auseinander gestellt, um ihrem übermäßig dicken Körper mehr Raum
zu verschaffen, nur mit größter Anstrengung, unter vielem Schnaufen
und häufigem Ausruhn, konnte sie sich so weit bücken, um ihre
Strümpfe am obersten Ende zu fassen und ein wenig herunter zu ziehn,
gänzlich ausziehn konnte sie sie nicht, das musste Delamarche
besorgen, auf den sie nun ungeduldig wartete.
Ganz
stumpf vor Müdigkeit war Josie von dem Haufen herunter gekrochen und
ging langsam zur Balkontüre, ein Stück Vorhangstoffes hatte sich
ihm um den Fuß gewickelt und er schleppte es gleichgültig mit. In
seiner Zerstreutheit sagte er sogar, als er an Brunelda vorüber
ging: "Ich wünsche gute Nacht, und wanderte dann an Delamarche
vorbei, der den Vorhang der Balkontüre ein wenig beiseite zog, auf
den Balkon hinaus. Gleich hinter Josie kam Robinson wohl nicht minder
schläfrig, denn er summte vor sich hin: "Immerfort malträtiert
man einen! Wenn Brunelda nicht mitkommt, gehe ich nicht auf den
Balkon." Aber trotz dieser Versicherung ging er ohne jeden
Widerstand heraus, wo er sich, da Josie schon in den Lehnstuhl
gesunken war, sofort auf den Steinboden legte.
Als
Josie erwachte, war es schon Abend, die Sterne standen schon am
Himmel, hinter den hohen Häusern der gegenüberliegenden
Straßenseite stieg der Schein des Mondes empor. Erst nach einigem
Umherschauen in der unbekannten Gegend, einigem Aufatmen in der
kühlen erfrischenden Luft, wurde sich Josie dessen bewusst, wo er
war. Wie unvorsichtig war er gewesen, alle Ratschläge der
Oberköchin, alle Warnungen Thereses, alle eigenen Befürchtungen
hatte er vernachlässigt, saß hier ruhig auf dem Balkon des
Delamarche und hatte hier gar den halben Tag verschlafen, als sei
nicht hier hinter dem Vorhang Delamarche, sein großer Feind. Auf dem
Boden wand sich der faule Robinson und zog Josie am Fuße, er schien
ihn auch auf diese Weise geweckt zu haben, denn er sagte: "Du
hast einen Schlaf, Rossmann! Das ist die sorglose Jugend. Wie lange
willst du denn noch schlafen. Ich hätte dich ja noch schlafen
lassen, aber erstens ist es mir da auf dem Boden zu langweilig und
zweitens habe ich einen großen Hunger. Ich bitte dich, steh ein
wenig auf, ich habe da unten im Sessel drin etwas zum Essen
aufgehoben, ich möchte es gern herausziehen. Du bekommst dann auch
etwas." Und Josie, der aufstand, sah nun zu, wie Robinson, ohne
aufzustehen, sich auf den Bauch herüber wälzte und mit
ausgestreckten Händen unter dem Sessel eine versilberte Schale
hervor zog, wie sie etwa zum Aufbewahren von Visitenkarten dient. Auf
dieser Schale lag aber eine halbe, ganz schwarze Wurst, einige dünne
Zigaretten, eine geöffnete, aber noch gut gefüllte und von Öl
überfließende Sardinenbüchse und eine Menge meist zerdrückter und
zu einem Ballen gewordener Bonbons. Dann erschien noch ein großes
Stück Brot und eine Art Parfümflasche, die aber etwas anderes als
Parfüm zu enthalten schien, denn Robinson zeigte mit besonderer
Genugtuung auf sie und schnalzte zu Josie hinauf: "Siehst du,
Rossmann", sagte Robinson, während er Sardine nach Sardine
herunter schlang und hier und da die Hände vom Öl an einem Wolltuch
reinigte, das offenbar Brunelda auf dem Balkon vergessen hatte.
"Siehst du, Rossmann, so muss man sich sein Essen aufheben, wenn
man nicht verhungern will. Du, ich bin ganz bei Seite geschoben. Und
wenn man immerfort als Hund behandelt wird, denkt man schließlich,
man ists wirklich. Gut, dass du da bist, Rossmann, ich kann
wenigstens mit jemandem reden. Im Haus spricht ja niemand mit mir.
Wir sind verhasst. Und alles wegen der Brunelda. Sie ist ja natürlich
ein prächtiges Weib. Du—" und er winkte Josie zu sich herab,
um ihm zuzuflüstern — "ich habe sie einmal nackt gesehn. Oh!"
—Und in der Erinnerung an diese Freude fing er an, Josies Beine zu
drücken und zu schlagen, bis Josie ausrief: "Robinson, du bist
ja verrückt", seine Hände packte und zurück stieß.
"Du
bist eben noch ein Kind, Rossmann", sagte Robinson, zog einen
Dolch, den er an einer Halsschnur trug, unter dem Hemd hervor, nahm
die Dolchkappe ab und zerschnitt die harte Wurst. "Du musst noch
viel zulernen. Bist aber bei uns an der richtigen Quelle. Setz dich
doch. Willst du nicht auch etwas essen. Nun vielleicht bekommst du
Appetit, wenn du mir zuschaust. Trinken willst du auch nicht? Du
willst aber rein gar nichts. Und gesprächig bist du gerade auch
nicht besonders. Aber es ist ganz gleichgültig, mit wem man auf dem
Balkon ist, wenn nur überhaupt jemand da ist. Ich bin nämlich sehr
oft auf dem Balkon. Das macht der Brunelda solchen Spaß. Es muss ihr
nur etwas einfallen, einmal ist ihr kalt, einmal heiß, einmal will
sie schlafen, einmal will sie sich kämmen, einmal will sie das
Mieder öffnen, einmal will sie es anziehn, und da werde ich immer
auf den Balkon geschickt. Manchmal tut sie wirklich das, was sie
sagt, aber meistens liegt sie nur so wie früher auf dem Kanapee und
rührt sich nicht. Früher habe ich öfters den Vorhang so ein wenig
weggezogen und durchgeschaut, aber seitdem einmal Delamarche bei
einer solchen Gelegenheit — ich weiß genau, dass er es nicht
wollte, sondern es nur auf Bruneldas Bitte tat — mir mit der
Peitsche einige Male ins Gesicht geschlagen hat — siehst du den
Striemen? — wage ich nicht mehr durchzuschauen. Und so liege ich
dann hier auf dem Balkon und habe kein Vergnügen außer dem Essen.
Vorgestern, als ich da abends so allein gelegen bin, damals war ich
noch in meinen eleganten Kleidern, die ich leider in deinem Hotel
verloren habe — diese Hunde! Reißen einem die teuern Kleider vom
Leib! — als ich also da so allein gelegen bin und durch das
Geländer herunter geschaut habe, war mir alles so traurig und ich
habe zu heulen angefangen. Da ist zufällig, ohne dass ich es gleich
bemerkt habe, Brunelda zu mir herausgekommen, in dem roten Kleid —
das passt ihr doch von allen am besten —, hat mir ein wenig
zugeschaut und hat endlich gesagt: 'Robinsonerl, warum weinst du?'
Dann hat sie ihr Kleid gehoben und mir mit dem Saum die Augen
abgewischt. Wer weiß, was sie noch getan hätte, wenn da nicht
Delamarche nach ihr gerufen hätte und sie nicht sofort wieder ins
Zimmer hätte hineingehen müssen. Natürlich habe ich gedacht, jetzt
sei die Reihe an mir und habe durch den Vorhang gefragt, ob ich schon
ins Zimmer darf. Und was meinst du, hat Brunelda gesagt? 'Nein!' hat
sie gesagt und 'Was fällt dir ein?' hat sie gesagt."
"Warum
bleibst du denn hier, wenn man dich so behandelt?" fragte Josie.
"Verzeih,
Rossmann, du fragst nicht sehr gescheit", antwortete Robinson.
"Du wirst schon auch noch hier bleiben und wenn man dich noch
ärger behandelt. Übrigens behandelt man mich gar nicht so arg."
"Nein",
sagte Josie, "ich gehe bestimmt weg und womöglich noch heute
Abend. Ich bleibe nicht bei euch."
"Wie
willst du denn z.B. das anstellen, heute Abend weg zu gehn?"
fragte Robinson, der das Weiche aus dem Brot herausgeschnitten hatte
und sorgfältig in dem Öl der Sardinenbüchse tränkte. "Wie
willst du weg gehn, wenn du nicht einmal ins Zimmer hinein gehn
darfst."
"Warum
dürfen wir denn nicht hinein gehn?"
"Nun,
solange es nicht geläutet hat, dürfen wir nicht hinein gehn",
sagte Robinson, der mit möglichst weit geöffnetem Mund das fette
Brot verspeiste, während er mit einer Hand das vom Brot herab
tropfende Öl auffing, um von Zeit zu Zeit das noch übrige Brot in
diese als Reservoir dienende hohle Hand zu tauchen. "Es ist hier
alles strenger geworden. Zuerst war da nur ein dünner Vorhang, man
hat zwar nicht durchgesehn, aber am Abend hat man doch die Schatten
erkannt. Das war Brunelda unangenehm und da habe ich einen ihrer
Theatermäntel zu einem Vorhang umarbeiten und statt des alten
Vorhanges hier aufhängen müssen. Jetzt sieht man gar nichts mehr.
Dann habe ich früher immer fragen dürfen, ob ich schon hinein gehn
darf und man hat mir je nach den Umständen geantwortet, 'Ja' oder
'Nein', aber dann habe ich das wahrscheinlich zu sehr ausgenützt und
zu oft gefragt, Brunelda konnte das nicht ertragen — sie ist trotz
ihrer Dicke sehr schwach veranlagt, Kopfschmerzen hat sie oft und
Gicht in den Beinen fast immer — und so wurde bestimmt, dass ich
nicht mehr fragen darf, sondern dass, wenn ich hinein gehn kann, auf
die Tischglocke gedrückt wird. Das gibt ein solches Läuten, dass es
mich selbst aus dem Schlaf weckt — ich habe einmal eine Katze zu
meiner Unterhaltung hier gehabt, die ist vor Schrecken über dieses
Läuten weggelaufen und nicht mehr zurückgekommen. Also geläutet
hat es heute noch nicht — wenn es nämlich läutet, dann darf ich
nicht nur, sondern muss hinein gehn — und wenn es einmal so lange
nicht läutet, dann kann es noch sehr lange dauern."
"Ja",
sagte Josie, "aber was für dich gilt, muss doch noch nicht für
mich gelten. Überhaupt gilt so etwas nur für den, der es sich
gefallen lässt."
"Aber",
rief Robinson, "warum sollte denn das nicht auch für dich
gelten? Selbstverständlich gilt es auch für dich. Warte hier nur
ruhig mit mir, bis es läutet. Dann kannst du ja versuchen, ob du
wegkommst."
"Warum
gehst du denn eigentlich nicht fort von hier? Nur deshalb, weil
Delamarche dein Freund ist oder besser war? Ist denn das ein Leben?
Wäre es da nicht in Butterford besser, wohin ihr zuerst wolltet?
Oder gar in Kalifornien, wo du Freunde hast."
"Ja",
sagte Robinson, "das konnte niemand voraus sehn."
Und
ehe er weitererzählte, sagte er noch: "Auf dein Wohl, lieber
Rossmann", und nahm einen langen Zug aus der Parfümflasche.
"Wir waren ja damals, als du uns so gemein hast sitzen lassen,
sehr schlecht daran. Arbeit konnten wir an den ersten Tagen keine
bekommen, Delamarche übrigens wollte keine Arbeit, er hätte sie
schon bekommen, sondern schickte nur immer mich auf Suche und ich
habe kein Glück. Er hat sich nur so herumgetrieben, aber es war
schon fast Abend, da hatte er nur ein Damenportemonnaie mitgebracht,
es war zwar sehr schön, aus Perlen, jetzt hat er es Brunelda
geschenkt, aber es war fast nichts darin. Dann sagte er, wir sollten
in die Wohnungen betteln gehn, bei dieser Gelegenheit kann man
natürlich manches Brauchbare finden; wir sind also betteln gegangen
und ich habe, damit es besser aussieht, vor den Wohnungstüren
gesungen. Und wie schon Delamarche immer Glück hat, sind wir nur vor
der zweiten Wohnung gestanden, einer sehr reichen Wohnung im Parterre
und haben an der Tür der Köchin und dem Diener etwas vorgesungen,
da kommt die Dame, der diese Wohnung gehört, eben Brunelda, die
Treppe hinauf. Sie war vielleicht zu stark geschnürt und konnte die
paar Stufen gar nicht heraufkommen. Aber wie schön sie ausgesehen
hat, Rossmann! Sie hat ein ganz weißes Kleid und einen roten
Sonnenschirm gehabt. Zum Ablecken war sie. Zum Austrinken war sie.
Ach, Gott, ach, Gott, war sie schön. So ein Frauenzimmer! Nein, sag
mir nur, wie kann es so ein Frauenzimmer geben? Natürlich ist das
Mädchen und der Diener gleich ihr entgegengelaufen und haben sie
fast hinauf getragen. Wir sind rechts und links von der Tür
gestanden und haben salutiert, das macht man hier so. Sie ist ein
wenig stehen geblieben, weil sie noch immer nicht genug Atem hatte
und nun weiß ich nicht, wie das eigentlich geschehen ist, ich war
durch das Hungern nicht ganz bei Verstand und sie war eben in der
Nähe noch schöner und riesig breit und infolge eines besondern
Mieders, ich kann es dir dann im Kasten zeigen, überall so fest —
kurz, ich habe sie ein bisschen hinten angerührt, aber ganz leicht,
weißt du, nur so angerührt. Natürlich kann man das nicht dulden,
dass ein Bettler eine reiche Dame anrührt. Es war ja fast keine
Berührung, aber schließlich war es eben doch eine Berührung. Wer
weiß, wie schlimm das ausgefallen wäre, wenn mir nicht Delamarche
sofort eine Ohrfeige gegeben hätte und zwar eine solche Ohrfeige,
dass ich sofort meine beiden Hände für die Wange brauchte."
"Was
ihr getrieben habt", sagte Josie, von der Geschichte ganz
gefangen genommen und setzte sich auf den Boden. "Das war also
Brunelda?"
"Nun
ja", sagte Robinson, "das war Brunelda."
"Sagtest
du nicht einmal, dass sie eine Sängerin ist?" fragte Josie.
"Freilich
ist sie eine Sängerin und eine große Sängerin", antwortete
Robinson, der eine große Bonbonmasse auf der Zunge wälzte und hier
und da ein Stück, das aus dem Mund gedrängt wurde, mit den Fingern
wieder zurück drückte. "Aber das wussten wir natürlich damals
noch nicht, wir sahen nur, dass es eine reiche und sehr feine Dame
war. Sie tat, als wäre nichts geschehn und vielleicht hatte sie auch
nichts gespürt, denn ich hatte sie tatsächlich nur mit den
Fingerspitzen angetippt. Aber immerfort hat sie Delamarche angesehen,
der ihr wieder — wie er das schön trifft — gerade in die Augen
zurückgeschaut hat. Darauf hat sie zu ihm gesagt: 'Komm mal auf ein
Weilchen herein' und hat mit dem Sonnenschirm in die Wohnung gezeigt,
wohin Delamarche ihr vorangehen sollte. Dann sind sie beide
hineingegangen und die Dienerschaft hat hinter ihnen die Türe
zugemacht. Mich haben sie draußen vergessen und da habe ich gedacht,
es wird nicht gar so lange dauern, und habe mich auf die Treppe
gesetzt, um Delamarche zu erwarten. Aber statt des Delamarche ist der
Diener herausgekommen und hat mir eine ganze Schüssel Suppe
herausgebracht, 'eine Aufmerksamkeit des Delamarche!' sagte ich mir.
Der Diener blieb noch, während ich aß, ein Weilchen bei mir stehen
und erzählte mir einiges über Brunelda und da habe ich gesehen, was
für eine Bedeutung der Besuch bei Brunelda für uns haben konnte.
Denn Brunelda war eine geschiedene Frau, hatte ein großes Vermögen
und war vollständig selbstständig. Ihr früherer Mann, ein
Kakaofabrikant, liebte sie zwar noch immer, aber sie wollte von ihm
nicht das Geringste hören.
Er
kam sehr oft in die Wohnung, immer sehr elegant, wie zu einer
Hochzeit, angezogen — das ist Wort für Wort wahr, ich kenne ihn
selbst — aber der Diener wagte trotz der größten Bestechung
nicht, Brunelda zu fragen, ob sie ihn empfangen wollte, denn er hatte
einige Mal schon gefragt und immer hatte ihm Brunelda das, was sie
gerade bei der Hand hatte, ins Gesicht geworfen. Einmal sogar ihre
große, gefüllte Wärmeflasche und mit der hatte sie ihm einen
Vorderzahn ausgeschlagen. Ja, Rossmann, da schaust du!"
"Woher
kennst du den Mann?" fragte Josie.
"Er
kommt manchmal auch herauf", sagte Robinson.
"Herauf?"
Josie schlug vor Staunen leicht mit der Hand auf den Boden.
"Du
kannst ruhig staunen", fuhr Robinson fort, "selbst ich habe
gestaunt, wie mir das der Diener damals erzählt hat. Denk nur, wenn
Brunelda nicht zuhause war, hat sich der Mann von dem Diener in ihre
Zimmer führen lassen und immer eine Kleinigkeit als Andenken
mitgenommen und immer etwas sehr Teueres und Feines für Brunelda
zurückgelassen und dem Diener streng verboten, zu sagen, von wem es
ist. Aber einmal, als er etwas — wie der Diener sagte und ich glaub
es — geradezu Unbezahlbares aus Porzellan mitgebracht hatte, muss
Brunelda es irgendwie erkannt haben, hat es sofort auf den Boden
geworfen, ist darauf herum getreten, hat es angespuckt und noch
einiges andere damit gemacht, so dass es der Diener vor Ekel kaum
heraus tragen konnte."
"Was
hat ihr denn der Mann getan?" fragte Josie.
"Das
weiß ich eigentlich nicht", sagte Robinson. "Ich glaube
aber, nichts Besonderes, wenigstens weiß er es selbst nicht. Ich
habe ja schon manchmal mit ihm darüber gesprochen. Er erwartet mich
täglich dort an der Straßenecke, wenn ich komme, so muss ich ihm
Neuigkeiten erzählen, kann ich nicht kommen, wartet er eine halbe
Stunde und geht dann wieder weg. Es war für mich ein guter
Nebenverdienst, denn er bezahlt die Nachrichten sehr vornehm, aber
seit Delamarche davon erfahren hat, muss ich ihm alles abliefern und
so geh ich seltener hin."
"Aber
was will der Mann haben?" fragte Josie, "was will er denn
nur haben? Er hört doch, sie will ihn nicht."
"Ja",
seufzte Robinson, zündete sich eine Zigarette an und blies unter
großen Armschwenkungen den Rauch in die Höhe. Dann schien er sich
anders zu entschließen und sagte: "Was kümmert das mich? Ich
weiß nur, er möchte viel Geld dafür geben, wenn er so hier auf dem
Balkon liegen dürfte, wie wir."
Josie
stand auf, lehnte sich ans Geländer und sah auf die Straße
hinunter. Der Mond war schon sichtbar, in die Tiefe der Gasse drang
sein Licht aber noch nicht. Die am Tag so leere Gasse war besonders
vor den Haustoren gedrängt voll Menschen, alle waren in langsamer,
schwerfälliger Bewegung, die Hemdsärmel der Männer, die hellen
Kleider der Frauen hoben sich schwach vom Dunkel ab, alle waren ohne
Kopfbedeckung. Die vielen Balkone ringsherum waren nun insgesamt
besetzt, dort saßen beim Licht einer Glühlampe die Familien, je
nach der Größe des Balkons, um einen kleinen Tisch herum oder bloß
auf Sesseln in einer Reihe oder sie steckten wenigstens die Köpfe
aus dem Zimmer hervor. Die Männer saßen breitbeinig da, die Füße
zwischen den Geländerstangen hinaus gestreckt, und lasen Zeitungen,
die fast bis auf den Boden reichten, oder spielten Karten, scheinbar
stumm, aber unter starken Schlägen auf die Tische, die Frauen hatten
den Schoß voll Näharbeit und erübrigten nur hier und da einen
kurzen Blick für ihre Umgebung oder für die Straße, eine blonde,
schwache Frau auf dem benachbarten Balkon gähnte immerfort,
verdrehte dabei die Augen und hob immer vor den Mund ein Wäschestück,
das sie gerade flickte; selbst auf den kleinsten Balkonen verstanden
es die Kinder, einander zu jagen, was den Eltern sehr lästig fiel.
Im Innern vieler Zimmer waren Grammofone aufgestellt und bliesen
Gesang oder Orchestralmusik hervor; man kümmerte sich nicht
besonders um diese Musik, nur hier und da gab der Familienvater einen
Wink und irgendjemand eilte ins Zimmer hinein, um eine neue Platte
einzulegen. An manchen Fenstern sah man vollständig bewegungslose
Liebespaare, an einem Fenster Josie gegenüber stand ein solches Paar
aufrecht, der junge Mann hatte seinen Arm um das Mädchen gelegt und
drückte mit der Hand ihre Brust.
"Kennst
du jemanden von den Leuten hier nebenan?" fragte Josie Robinson,
der nun auch aufgestanden war und weil es ihn fröstelte, außer der
Bettdecke auch noch die Decke Bruneldas um sich gewickelt hielt.
"Fast
niemanden. Das ist ja eben das Schlimme an meiner Stellung",
sagte Robinson und zog Josie näher zu sich, um ihm ins Ohr flüstern
zu können, "sonst hätte ich mich augenblicklich nicht gerade
zu beklagen. Brunelda hat ja wegen Delamarche alles, was sie hatte,
verkauft und ist mit allen ihren Reichtümern hierher in diese
Vorstadtwohnung gezogen, damit sie sich ihm ganz widmen kann und
damit sie niemand stört, übrigens war das auch der Wunsch von
Delamarche."
"Und
die Dienerschaft hat sie entlassen?" fragte Josie. "Ganz
richtig", sagte Robinson. "Wo sollte man auch die
Dienerschaft hier unterbringen? Diese Diener sind ja sehr
anspruchsvolle Herren. Einmal hat Delamarche bei Brunelda einen
solchen Diener einfach mit Ohrfeigen aus dem Zimmer getrieben, da ist
eine nach der andern geflogen, bis der Mann draußen war. Natürlich
haben die andern Diener sich mit ihm vereinigt und vor der Tür Lärm
gemacht, da ist Delamarche herausgekommen, ich war damals nicht
Diener, sondern Hausfreund, aber doch war ich mit den Dienern
beisammen, und hat gefragt: 'Was wollt ihr?' Der älteste Diener, ein
gewisser Isidor, hat daraufhin gesagt: 'Sie haben mit uns nichts zu
reden, unsere Herrin ist die gnädige Frau.' Wie du wahrscheinlich
merkst, haben sie Brunelda sehr verehrt. Aber Brunelda ist, ohne sich
um sie zu kümmern, zu Delamarche gelaufen, sie war damals doch noch
nicht so schwer wie jetzt, hat ihn vor allen umarmt, geküsst und
'liebster Delamarche' genannt. 'Und schick doch schon diese Affen
weg', hat sie endlich gesagt. Affen — das sollten die Diener sein,
stell dir die Gesichter vor, die sie da machten. Dann hat Brunelda
die Hand von Delamarche zu ihrer Geldtasche hingezogen, die sie am
Gürtel trug, Delamarche hat hinein gegriffen und also angefangen,
die Diener auszuzahlen; Brunelda hat sich nur dadurch an der
Auszahlung beteiligt, dass sie mit der offenen Geldtasche im Gürtel
dabei gestanden ist. Delamarche musste oft hinein greifen, denn er
verteilte das Geld, ohne zu zählen, und ohne die Forderungen zu
prüfen. Schließlich sagte er: Da ihr also mit mir nicht reden
wollt, sage ich euch nur im Namen Bruneldas: 'Packt euch, aber
sofort.' So sind sie entlassen worden, es gab dann noch einige
Prozesse, Delamarche musste sogar einmal zum Gericht, aber davon weiß
ich nichts Genaueres. Nur gleich nach dem Abschied der Diener hat
Delamarche zu Brunelda gesagt: 'Jetzt hast du also keine
Dienerschaft?' Sie hat gesagt: 'Aber da ist ja Robinson.' Daraufhin
hat Delamarche gesagt und hat mir dabei einen Schlag auf die Achsel
gegeben: 'Also gut, du wirst unser Diener sein.' Und Brunelda hat mir
dann auf die Wange geklopft; wenn sich die Gelegenheit findet,
Rossmann, lass dir auch einmal von ihr auf die Wangen klopfen, du
wirst staunen, wie schön das ist."
"Du
bist also der Diener von Delamarche geworden?" sagte Josie
zusammenfassend.
Robinson
hörte das Bedauern aus der Frage heraus und antwortete: "Ich
bin Diener, aber das bemerken nur wenige Leute. Du siehst, du selbst
wusstest es nicht, trotzdem du doch schon ein Weilchen bei uns bist.
Du hast ja gesehen, wie ich in der Nacht bei euch im Hotel angezogen
war. Das Feinste vom Feinen hatte ich an, gehen Diener so angezogen?
Nur ist eben die Sache die, dass ich nicht oft weggehen darf, ich
muss immer bei der Hand sein, in der Wirtschaft ist eben immer etwas
zu tun. Eine Person ist eben zu wenig für die viele Arbeit. Wie du
vielleicht bemerkt hast, haben wir sehr viele Sachen im Zimmer
herumstehen; was wir eben bei dem großen Auszug nicht verkaufen
konnten, haben wir mitgenommen. Natürlich hätte man es wegschenken
können, aber Brunelda schenkt nichts weg. Denk dir nur, welche
Arbeit es gegeben hat, diese Sachen die Treppe herauf zu tragen."
"Robinson,
du hast das alles herauf getragen?" rief Josie.
"Wer
denn sonst?" sagte Robinson. "Es war noch ein Hilfsarbeiter
da, ein faules Luder, ich habe die meiste Arbeit allein machen
müssen. Brunelda ist unten beim Wagen gestanden, Delamarche hat oben
angeordnet, wohin die Sachen zu legen sind und ich bin immerfort hin
und hergelaufen. Es hat zwei Tage gedauert, sehr lange, nicht wahr?
Aber du weißt ja gar nicht, wie viel Sachen hier im Zimmer sind,
alle Kästen sind voll und hinter den Kästen ist alles voll
gestopft, bis zur Decke hinauf. Wenn man ein paar Leute für den
Transport aufgenommen hätte, wäre ja alles bald fertig gewesen,
aber Brunelda wollte es niemandem außer mir anvertrauen. Das war ja
sehr schön, aber ich habe damals meine Gesundheit für mein ganzes
Leben verdorben, und was habe ich denn sonst gehabt, als meine
Gesundheit. Wenn ich mich nur ein wenig anstrenge, sticht es mich
hier und hier und hier. Glaubst du, diese Jungen im Hotel, diese
Grasfrösche — was sind sie denn sonst? — hätten mich jemals
besiegen können, wenn ich gesund wäre. Aber was mir auch fehlen
sollte, Delamarche und Brunelda sage ich kein Wort, ich werde
arbeiten, solange es gehen wird, und bis es nicht mehr gehen wird,
werde ich mich hinlegen und sterben und dann erst, zu spät, werden
sie sehen, dass ich krank gewesen bin und trotzdem immerfort und
immerfort weitergearbeitet und mich in ihren Diensten zu Tode
gearbeitet habe. Ach, Rossmann", sagte er schließlich und
trocknete die Augen an Josies Hemdsärmel. Nach einem Weilchen sagte
er: "Ist dir denn nicht kalt, du stehst da so im Hemd."
"Geh,
Robinson", sagte Josie, "immerfort weinst du. Ich glaube
nicht, dass du so krank bist. Du siehst ganz gesund aus, aber weil du
immerfort da auf dem Balkon liegst, hast du dir so Verschiedenes
ausgedacht. Du hast vielleicht manchmal einen Stich in der Brust, das
habe ich auch, das hat jeder. Wenn alle Menschen wegen jeder
Kleinigkeit so weinen wollten, wie du, müssten da die Leute auf
allen Balkonen weinen."
"Ich
weiß es besser", sagte Robinson und wischte nun die Augen mit
dem Zipfel seiner Decke. "Der Student, der nebenan bei der
Vermieterin wohnt, die auch für uns kochte, hat mir letzthin, als
ich das Essgeschirr zurück brachte, gesagt: 'Hören Sie einmal,
Robinson, sind Sie nicht krank?' Mir ist verboten, mit den Leuten zu
reden und so habe ich nur das Geschirr hingelegt und wollte weggehen.
Da ist er zu mir gegangen und hat gesagt: 'Hören Sie, Mann, treiben
Sie die Sache nicht zum Äußersten, Sie sind krank.' 'Ja also, ich
bitte, was soll ich denn machen', habe ich gefragt. 'Das ist ihre
Sache', hat er gesagt und hat sich umgedreht. Die andern dort bei
Tisch haben gelacht, wir haben ja hier überall Feinde und so bin ich
lieber weggegangen."
"Also
Leuten, die dich zum Narren halten, glaubst du und Leuten, die es mit
dir gut meinen, glaubst du nicht."
"Aber
ich muss doch wissen, wie mir ist", fuhr Robinson auf, kehrte
aber gleich wieder zum Weinen zurück.
"Du
weißt eben nicht, was dir fehlt, du solltest irgendeine ordentliche
Arbeit für dich suchen, statt hier den Diener des Delamarche zu
machen. Denn so weit ich nach deinen Erzählungen und nach dem, was
ich selbst gesehen habe, urteilen kann, ist das hier kein Dienst,
sondern eine Sklaverei. Das kann kein Mensch ertragen, das glaube ich
dir. Du aber denkst, weil du der Freund von Delamarche bist, darfst
du ihn nicht verlassen. Das ist falsch, wenn er nicht einsieht, was
für ein elendes Leben du führst, so hast du ihm gegenüber nicht
die geringsten Verpflichtungen mehr."
"Du
glaubst also wirklich, Rossmann, dass ich mich wieder erholen werde,
wenn ich das Dienen hier aufgebe."
"Gewiss",
sagte Josie.
"Gewiss?"
fragte nochmals Robinson.
"Ganz
gewiss", sagte Josie lächelnd.
"Dann
könnte ich ja gleich anfangen, mich zu erholen", sagte Robinson
und sah Josie an.
"Wieso
denn?" fragte dieser.
"Nun,
weil du doch meine Arbeit hier übernehmen sollst", antwortete
Robinson.
"Wer
hat dir denn das gesagt?" fragte Josie.
"Das
ist doch ein alter Plan. Davon wird ja schon seit einigen Tagen
gesprochen. Es hat damit angefangen, dass Brunelda mich ausgezankt
hat, weil ich die Wohnung nicht genug sauber halte. Natürlich habe
ich versprochen, dass ich alles gleich in Ordnung bringen werde. Nun
ist das aber sehr schwer. Ich kann z.B. in meinem Zustand nicht
überall hin kriechen, um den Staub weg zu wischen, man kann sich
schon in der Mitte des Zimmers nicht rühren, wie erst dort zwischen
den Möbeln und den Vorräten. Und wenn man alles genau reinigen
will, muss man doch auch die Möbel von ihrem Platz weg schieben und
das soll ich allein machen? Außerdem müsste das alles ganz leise
geschehen, weil doch Brunelda, die ja das Zimmer kaum verlässt,
nicht gestört werden darf. Ich habe also zwar versprochen, dass ich
alles rein machen werde, aber rein gemacht habe ich es tatsächlich
nicht. Als Brunelda das bemerkt hat, hat sie zu Delamarche gesagt,
dass das nicht so weiter geht und dass man noch eine Hilfskraft wird
aufnehmen müssen. 'Ich will nicht, Delamarche', hat sie gesagt,
'dass du mir einmal Vorwürfe machst, ich hätte die Wirtschaft nicht
gut geführt. Selbst kann ich mich nicht anstrengen, das siehst du
doch ein und Robinson genügt nicht, am Anfang war er so frisch und
hat sich überall umgesehn, aber jetzt ist er immerfort müde und
sitzt meist in einem Winkel. Aber ein Zimmer, mit so viel
Gegenständen wie das unsrige, hält sich nicht selbst in Ordnung.'
Daraufhin hat Delamarche nachgedacht, was sich da tun ließe, denn
eine beliebige Person kann man natürlich nicht in einen solchen
Haushalt aufnehmen, auch zur Probe nicht, denn man passt uns ja von
allen Seiten auf. Weil ich aber dein guter Freund bin und von Renell
gehört habe, wie du dich im Hotel plagen musst, habe ich dich in
Vorschlag gebracht. Delamarche war gleich einverstanden, trotzdem du
damals gegen ihn dich so keck benommen hast und ich habe mich
natürlich sehr gefreut, dass ich dir so nützlich sein konnte. Für
dich ist nämlich diese Stellung wie geschaffen, du bist jung, stark
und geschickt, während ich nichts mehr wert bin. Nur will ich dir
sagen, dass du noch keineswegs aufgenommen bist; wenn du Brunelda
nicht gefällst, können wir dich nicht brauchen. Also strenge dich
nur an, dass du ihr angenehm bist, für das Übrige werde ich schon
sorgen."
"Und
was wirst du machen, wenn ich hier Diener sein werde?" fragte
Josie, er fühlte sich so frei, der erste Schrecken, den ihm die
Mitteilungen Robinsons verursacht hatten, war vorüber. Delamarche
hatte also keine schlimmeren Absichten mit ihm, als ihn zum Diener zu
machen, — hätte er schlimmere Absichten gehabt, dann hätte sie
der plapperhafte Robinson gewiss verraten — wenn es aber so stand,
dann getraute sich Josie, noch heute Nacht den Abschied
durchzuführen. Man kann niemanden zwingen, einen Posten anzunehmen.
Und während Josie früher genug Sorgen gehabt hatte, ob er nach
seiner Entlassung aus dem Hotel genügend bald, um vor Hunger
geschützt zu sein, einen passenden und womöglich nicht
unansehnlichen Posten bekommen werde, schien ihm jetzt im Vergleich
zu dem ihm hier zugedachten Posten, der ihm widerlich war, jeder
andere Posten gut genug, und selbst die stellungslose Not hätte er
diesem Posten vorgezogen. Robinson das aber begreiflich zu machen,
versuchte er gar nicht, besonders da Robinson jetzt in jedem Urteil
durch die Hoffnung völlig befangen war, von Josie entlastet zu
werden.
"Ich
werde also", sagte Robinson und begleitete die Rede mit
behaglichen Handbewegungen — die Ellenbogen hatte er auf das
Geländer aufgestützt, — "zunächst dir alles erklären und
die Vorräte zeigen. Du bist gebildet und hast sicher eine schöne
Schrift, du könntest also gleich ein Verzeichnis aller der Sachen
machen, die wir da haben. Das hat sich Brunelda schon längst
gewünscht. Wenn morgen Vormittag schönes Wetter ist, werden wir
Brunelda bitten, dass sie sich auf den Balkon setzt und inzwischen
werden wir ruhig und ohne sie zu stören, im Zimmer arbeiten können.
Denn darauf, Rossmann, musst du vor allem Acht geben. Nur nicht
Brunelda stören. Sie hört alles, wahrscheinlich hat sie als
Sängerin so empfindliche Ohren. Du rollst z.B. das Fass mit Schnaps,
das hinter den Kästen steht, heraus, es macht ja Lärm, weil es
schwer ist und dort überall verschiedene Sachen herumliegen, so dass
man es nicht mit einem Mal durchrollen kann. Brunelda liegt z.B.
ruhig auf dem Kanapee und fängt Fliegen, die sie überhaupt sehr
belästigen. Du glaubst also, sie kümmert sich um dich nicht und
rollst dein Fass weiter. Sie liegt noch immer ruhig. Aber in einem
Augenblick, wo du es gar nicht erwartest und wo du am wenigsten Lärm
machst, setzt sie sich plötzlich aufrecht, schlägt mit beiden
Händen auf das Kanapee, dass man sie vor Staub nicht sieht — seit
wir hier sind, habe ich das Kanapee nicht ausgeklopft, ich kann ja
nicht, sie liegt doch immerfort darauf — und fängt schrecklich zu
schreien an, wie ein Mann, und schreit so stundenlang. Das Singen
haben ihr die Nachbarn verboten, das Schreien aber kann ihr niemand
verbieten, sie muss schreien, übrigens geschieht es ja jetzt nur
selten, ich und Delamarche sind sehr vorsichtig geworden. Es hat ihm
ja auch sehr geschadet. Einmal ist sie ohnmächtig geworden und ich
habe — Delamarche war gerade weg — den Studenten von nebenan
holen müssen, der hat sie aus einer großen Flasche mit einer
Flüssigkeit bespritzt, es hat auch geholfen, aber diese Flüssigkeit
hat einen unerträglichen Geruch gehabt, noch jetzt, wenn man die
Nase zum Kanapee hält, riecht man es. Der Student ist sicher unser
Feind, wie alle hier, du musst dich auch vor allen in Acht nehmen,
und dich mit keinem einlassen."
"Du,
Robinson", sagte Josie, "das ist aber ein schwerer Dienst.
Da hast du mich für einen schönen Posten empfohlen."
"Mach
dir keine Sorgen", sagte Robinson und schüttelte mit
geschlossenen Augen den Kopf, um alle möglichen Sorgen Josies
abzuwehren, "der Posten hat auch Vorteile, wie sie dir kein
anderer Posten bieten kann. Du bist immerfort in der Nähe einer
Dame, wie Brunelda eine ist, du schläfst manchmal mit ihr im
gleichen Zimmer, das bringt schon, wie du dir denken kannst,
verschiedene Annehmlichkeiten mit sich. Du wirst reichlich bezahlt
werden, Geld ist in Menge da, ich habe als Freund des Delamarche
nichts bekommen, nur wenn ich ausgegangen bin, hat mir Brunelda immer
etwas mitgegeben, aber du wirst natürlich bezahlt werden, wie ein
anderer Diener. Du bist ja auch nichts anderes. Das Wichtigste für
dich aber ist, dass ich dir den Posten sehr erleichtern werde.
Zunächst werde ich natürlich nichts machen, damit ich mich erhole,
aber wie ich nur ein wenig erholt bin, kannst du auf mich rechnen.
Die eigentliche Bedienung Bruneldas behalte ich überhaupt für mich,
also das Frisieren und Anziehn, so weit es nicht Delamarche besorgt.
Du wirst dich nur um das Aufräumen des Zimmers, um Besorgungen und
die schwereren häuslichen Arbeiten zu kümmern haben."
"Nein,
Robinson", sagte Josie, "das alles verlockt mich nicht."
"Mach
keine Dummheiten, Rossmann", sagte Robinson, ganz nahe an Josies
Gesicht, "verscherze dir nicht diese schöne Gelegenheit. Wo
bekommst du denn gleich einen Posten? Wer kennt dich? Wen kennst du?
Wir, zwei Männer, die schon viel erlebt haben und große Erfahrung
besitzen, sind wochenlang herumgelaufen, ohne Arbeit zu bekommen. Es
ist nicht leicht, es ist sogar verzweifelt schwer."
Josie
nickte und wunderte sich, wie vernünftig Robinson auch sprechen
konnte. Für ihn hatten diese Ratschläge allerdings keine Geltung,
er durfte hier nicht bleiben, in der großen Stadt würde sich wohl
ein Plätzchen noch für ihn finden, die ganze Nacht über, das
wusste er, waren alle Gasthäuser überfüllt, man brauchte Bedienung
für die Gäste, darin hatte er nun schon Übung, er würde sich
schon rasch und unauffällig in irgendeinen Betrieb einfügen. Gerade
im gegenüberliegenden Hause war unten ein kleines Gasthaus
untergebracht, aus dem eine rauschende Musik hervor drang. Der
Haupteingang war nur mit einem großen, gelben Vorhang verdeckt, der
manchmal von einem Luftzug bewegt mächtig in die Gasse hinaus
flatterte. Sonst war es in der Gasse freilich viel stiller geworden.
Die meisten Balkone waren finster, nur in der Ferne fand sich noch
hier oder dort ein einzelnes Licht, aber kaum fasste man es für ein
Weilchen ins Auge, erhoben sich dort die Leute und während sie in
die Wohnung zurückdrängten, griff ein Mann an die Glühlampe und
drehte, als Letzter auf dem Balkon zurückbleibend, nach einem kurzen
Blick auf die Gasse das Licht aus.
"Nun
beginnt ja schon die Nacht", sagte sich Josie, "bleibe ich
noch länger hier, gehöre ich schon zu ihnen." Er drehte sich
um, um den Vorhang vor der Wohnungstür wegzuziehen. "Was willst
du?" sagte Robinson und stellte sich zwischen Josie und den
Vorhang. "Weg will ich", sagte Josie, "lass mich, lass
mich!" "Du willst sie doch nicht stören", rief
Robinson, "was fällt dir denn nur ein." Und er legte Josie
die Arme um den Hals, hing sich mit seiner ganzen Last an ihn,
umklammerte mit den Beinen Josies Beine und zog ihn so im Augenblick
auf die Erde nieder. Aber Josie hatte unter den Liftjungen ein wenig
raufen gelernt und so stieß er Robinson die Faust unter das Kinn,
aber schwach und voll Schonung. Der gab Josie noch rasch und ganz
rücksichtslos mit dem Knie einen vollen Stoß in den Bauch, fing
dann aber, beide Hände am Kinn, so laut zu heulen an, dass von dem
benachbarten Balkon ein Mann unter wildem Händeklatschen "Ruhe"
befahl. Josie lag noch ein wenig still, um den Schmerz, den ihm der
Stoß Robinsons verursacht hatte, zu verwinden. Er wendete nur das
Gesicht zum Vorhang hin, der ruhig und schwer vor dem offenbar
dunklen Zimmer hing. Es schien ja niemand mehr im Zimmer zu sein,
vielleicht war Delamarche mit Brunelda ausgegangen und Josie hatte
schon völlige Freiheit. Robinson, der sich wirklich wie ein
Wächterhund benahm, war ja endgültig abgeschüttelt.
Da
ertönten aus der Ferne, von der Gasse her stoßweise Trommeln und
Trompeten. Einzelne Rufe vieler Leute sammelten sich bald zu einem
allgemeinen Schreien. Josie drehte den Kopf und sah wie sich alle
Balkone von neuem belebten. Langsam erhob er sich, er konnte sich
nicht ganz aufrichten und musste sich schwer gegen das Geländer
drücken. Unten auf den Trottoiren marschierten junge Burschen mit
großen Schritten, ausgestreckten Armen, die Mützen in der erhobenen
Hand, die Gesichter zurück gewendet. Die Fahrbahn blieb noch frei.
Einzelne schwenkten auf hohen Stangen Lampione, die von einem
gelblichen Rauch umhüllt waren. Gerade traten die Trommler und
Trompeter in breiten Reihen ans Licht und Josie staunte über ihre
Menge, da hörte er hinter sich Stimmen, drehte sich um und sah
Delamarche den schweren Vorhang heben und dann aus dem Zimmerdunkel
Brunelda treten, im roten Kleid, mit einem Spitzenüberwurf um die
Schultern, einem dunklen Häubchen über dem wahrscheinlich
unfrisierten und bloß aufgehäuften Haar, dessen Enden hier und da
hervor sahen. In der Hand hielt sie einen kleinen, ausgespannten
Fächer, bewegte ihn aber nicht, sondern drückte ihn eng an sich.
Josie
schob sich am Geländer entlang zur Seite, um den beiden Platz zu
machen. Gewiss würde ihn niemand zum Hierbleiben zwingen und wenn es
auch Delamarche versuchen sollte, Brunelda würde ihn auf seine Bitte
sofort entlassen. Sie konnte ihn ja gar nicht leiden, seine Augen
erschreckten sie. Aber als er einen Schritt zur Tür hin machte,
hatte sie es doch bemerkt und sagte: "Wohin denn, Kleiner?"
Josie stockte vor den strengen Blicken Delamarches und Brunelda zog
ihn zu sich. "Willst du dir denn nicht den Aufzug unten ansehn?"
sagte sie und schob ihn vor sich an das Geländer. "Weißt du,
um was es sich handelt?" hörte sie Josie hinter sich sagen und
machte ohne Erfolg eine unwillkürliche Bewegung, um sich ihrem Druck
zu entziehen. Traurig sah er auf die Gasse hinunter, als sei dort der
Grund seiner Traurigkeit.
Delamarche
stand zuerst mit gekreuzten Armen hinter Brunelda, dann lief er ins
Zimmer und brachte Brunelda den Operngucker. Unten war hinter den
Musikanten der Hauptteil des Aufzuges erschienen. Auf den Schultern
eines riesenhaften Mannes saß ein Herr, von dem man in dieser Höhe
nichts anderes sah, als seine matt schimmernde Glatze, über der er
seinen Zylinderhut ständig grüßend hoch erhoben hielt. Rings um
ihn wurden offenbar Holztafeln getragen, die vom Balkon aus gesehen
ganz weiß erschienen; die Anordnung war derartig getroffen, dass
diese Plakate von allen Seiten sich förmlich an den Herrn anlehnten,
der aus ihrer Mitte hoch hervorragte. Da alles im Gange war, lockerte
sich diese Mauer von Plakaten immerfort und ordnete sich auch
immerfort von Neuem. Im weitern Umkreis war um den Herrn die ganze
Breite der Gasse, wenn auch, so weit man im Dunkel schätzen konnte,
auf eine unbedeutende Länge hin, von Anhängern des Herrn angefüllt,
die sämtlich in die Hände klatschten und wahrscheinlich den Namen
des Herrn, einen ganz kurzen, aber unverständlichen Namen, in einem
getragenen Gesange verkündeten. Einzelne, die geschickt in der Menge
verteilt waren, hatten Automobillaternen mit äußerst starkem Licht,
das sie die Häuser auf beiden Seiten der Straße langsam auf- und
abwärts führten. In Josies Höhe störte das Licht nicht mehr, aber
auf den unteren Balkonen sah man die Leute, die davon bestrichen
wurden, eiligst die Hände an die Augen führen.
Delamarche
erkundigte sich auf die Bitte Bruneldas bei den Leuten auf dem
Nachbarbalkon, was die Veranstaltung zu bedeuten habe. Josie war ein
wenig neugierig, ob und wie man ihm antworten würde. Und tatsächlich
musste Delamarche dreimal fragen, ohne eine Antwort zu bekommen. Er
beugte sich schon gefährlich über das Geländer, Brunelda stampfte
vor Ärger über die Nachbarn leicht auf, Josie fühlte ihr Knie.
Endlich kam doch irgendeine Antwort, aber gleichzeitig fingen auf
diesem Balkon, der gedrängt voll Menschen war, alle laut zu lachen
an. Daraufhin schrie Delamarche etwas hinüber, so laut, dass, wenn
nicht augenblicklich in der ganzen Gasse viel Lärm gewesen wäre,
alles ringsherum erstaunt hätte aufhorchen müssen. Jedenfalls hatte
es die Wirkung, dass das Lachen unnatürlich bald sich legte.
"Es
wird morgen ein Richter in unserem Bezirk gewählt und der, den sie
unten tragen, ist ein Kandidat", sagte Delamarche, vollkommen
ruhig zu Brunelda zurückkehrend. "Nein!" rief er dann und
klopfte liebkosend Brunelda auf den Rücken, "wir wissen schon
gar nicht mehr, was in der Welt vorgeht."
"Delamarche",
sagte Brunelda, auf das Benehmen der Nachbarn zurückkommend, "wie
gern wollte ich übersiedeln, wenn es nicht so anstrengend wäre. Ich
darf es mir aber leider nicht zutrauen." Und unter großen
Seufzern, unruhig und zerstreut, nestelte sie an Josies Hemd, der
möglichst unauffällig immer wieder diese kleinen, fetten Händchen
weg zu schieben suchte, was ihm auch leicht gelang, denn Brunelda
dachte nicht an ihn, sie war mit ganz anderen Gedanken beschäftigt.
Aber
auch Josie vergaß bald Brunelda und duldete die Last ihrer Arme auf
seinen Achseln, denn die Vorgänge auf der Straße nahmen ihn sehr in
Anspruch. Auf Anordnung einer kleinen Gruppe gestikulierender Männer,
die knapp vor dem Kandidaten marschierten und deren Unterhaltungen
eine besondere Bedeutung haben mussten, denn von allen Seiten sah man
lauschende Gesichter sich ihnen zuneigen, wurde unerwarteterweise vor
dem Gasthaus Halt gemacht. Einer dieser maßgebenden Männer machte
mit erhobener Hand ein Zeichen, das sowohl der Menge als auch dem
Kandidaten galt. Die Menge verstummte und der Kandidat, der sich auf
den Schultern seines Trägers mehrmals aufzustellen suchte und
mehrmals in den Sitz zurück fiel, hielt eine kleine Rede, während
welcher er seinen Zylinder in Windeseile hin- und herfahren ließ.
Man sah das ganz deutlich, denn während seiner Rede waren alle
Automobillaternen auf ihn gerichtet worden, so dass er in der Mitte
eines hellen Sternes sich befand.
Nun
erkannte man aber auch schon das Interesse, welches die ganze Straße
an der Angelegenheit nahm. Auf den Balkonen, die von Parteigängern
des Kandidaten besetzt waren, fiel man mit in das Singen seines
Namens ein und ließ die weit über das Geländer vorgestreckten
Hände maschinenmäßig klatschen. Auf den übrigen Balkonen, die
sogar in der Mehrzahl waren, erhob sich ein starker Gegengesang, der
allerdings keine einheitliche Wirkung hatte, da es sich um die
Anhänger verschiedener Kandidaten handelte. Dagegen verbanden sich
weiterhin alle Feinde des anwesenden Kandidaten zu einem allgemeinen
Pfeifen und sogar Grammofone wurden vielfach wieder in Gang gesetzt.
Zwischen den einzelnen Balkonen wurden politische Streitigkeiten mit
einer durch die nächtliche Stunde verstärkten Erregung ausgetragen.
Die meisten waren schon in Nachtkleidern und hatten nur Überröcke
umgeworfen, die Frauen hüllten sich in große, dunkle Tücher, die
unbeachteten Kinder kletterten beängstigend auf den Einfassungen der
Balkone umher und kamen in immer größerer Zahl aus den dunklen
Zimmern, in denen sie schon geschlafen hatten, hervor. Hier und da
wurden einzelne unkenntliche Gegenstände von besonders Erhitzten in
die Richtung ihrer Gegner geschleudert, manchmal gelangten sie an ihr
Ziel, meist aber fielen sie auf die Straße herab, wo sie oft ein
Wutgeheul hervorriefen. Wurde den führenden Männern unten der Lärm
zu arg, so erhielten die Trommler und Trompeter den Auftrag,
einzugreifen und ihr schmetterndes, mit ganzer Kraft ausgeführtes,
nicht Enden wollendes Signal unterdrückte alle menschlichen Stimmen
bis zu den Dächern der Häuser hinauf. Und immer, ganz plötzlich —
man glaubte es kaum — hörten sie auf, worauf die hierfür offenbar
eingeübte Menge auf der Straße in die für einen Augenblick
eingetretene, allgemeine Stille ihren Parteigesang empor brüllte —
man sah im Lichte der Automobillaternen den Mund jedes Einzelnen weit
geöffnet — bis dann die inzwischen zur Besinnung gekommenen Gegner
zehnmal so stark wie früher aus allen Balkonen und Fenstern hervor
schrien und die Partei unten nach ihrem kurzen Sieg zu einem für
diese Höhe wenigstens gänzlichen Verstummen brachten.
"Wie
gefällt es dir, Kleiner?" fragte Brunelda, die sich eng hinter
Josie hin- und herdrehte, um mit dem Gucker möglichst alles zu
übersehen. Josie antwortete nur durch Kopfnicken. Nebenbei bemerkte
er, wie Robinson Delamarche eifrig verschiedene Mitteilungen,
offenbar über Josies Verhalten, machte, denen aber Delamarche keine
Bedeutung beizumessen schien, denn er suchte Robinson mit der Linken,
mit der Rechten hatte er Brunelda umfasst, immerfort beiseite zu
schieben. "Willst du nicht durch den Gucker schauen?"
fragte Brunelda und klopfte auf Josies Brust, um zu zeigen, dass sie
ihn meine.
"Ich
sehe genug", sagte Josie.
"Versuch
es doch", sagte sie, "du wirst besser sehen."
"Ich
habe gute Augen", antwortete Josie, "ich sehe alles."
Er empfand es nicht als Liebenswürdigkeit, sondern als Störung, als
sie den Gucker seinen Augen näherte und tatsächlich sagte sie nun
nichts als das eine Wort: "Du!" Melodisch, aber drohend.
Und schon hatte Josie den Gucker an seinen Augen und sah nun
tatsächlich nichts.
"Ich
sehe ja nichts", sagte er und wollte den Gucker loswerden, aber
den Gucker hielt sie fest und den auf ihrer Brust eingebetteten Kopf
konnte er weder zurück noch seitwärts schieben.
"Jetzt
siehst du aber schon", sagte sie und drehte an der Schraube des
Guckers.
"Nein,
ich sehe noch immer nichts", sagte Josie und dachte daran, dass
er Robinson ohne seinen Willen nun tatsächlich entlastet habe, denn
Bruneldas unerträgliche Launen wurden nun an ihm ausgelassen.
"Wann
wirst du denn endlich sehen?" sagte sie und drehte — Josie
hatte nun sein ganzes Gesicht in ihrem schweren Atem — weiter an
der Schraube. "Jetzt?" fragte sie.
"Nein,
nein, nein!" rief Josie, trotzdem er nun tatsächlich, wenn auch
nur sehr undeutlich, alles unterscheiden konnte. Aber gerade hatte
Brunelda irgendetwas mit Delamarche zu tun, sie hielt den Gucker nur
lose vor Josies Gesicht und Josie konnte, ohne dass sie es besonders
beachtete, unter dem Gucker hinweg auf die Straße sehen. Später
bestand sie auch nicht mehr auf ihrem Willen und benützte den Gucker
für sich.
Aus
dem Gasthaus unten war ein Kellner getreten und auf der Türschwelle
hin und her eilend nahm er die Bestellungen der Führer entgegen. Man
sah, wie er sich streckte, um das Innere des Lokals zu übersehen und
möglichst viel Bedienung herbeizurufen. Während dieser offenbar
einem großen Freitrinken dienenden Vorbereitungen ließ der Kandidat
nicht vom Reden ab. Sein Träger, der riesige nur ihm dienende Mann,
machte immer nach einigen Sätzen eine kleine Drehung, um die Rede
allen Teilen der Menge zukommen zu lassen. Der Kandidat hielt sich
meist ganz zusammen gekrümmt und versuchte mit ruckweisen Bewegungen
der einen freien Hand und des Zylinders in der andern seinen Worten
möglichste Eindringlichkeit zu geben. Manchmal aber, in fast
regelmäßigen Zwischenräumen, durchfuhr es ihn, er erhob sich mit
ausgebreiteten Armen, er redete nicht mehr eine Gruppe, sondern die
Gesamtheit an, er sprach zu den Bewohnern der Häuser bis zu den
höchsten Stockwerken hinauf und doch war es vollkommen klar, dass
ihn schon in den untersten Stockwerken niemand hören konnte, ja,
dass ihm auch, wenn die Möglichkeit gewesen wäre, niemand hätte
zuhören wollen, denn jedes Fenster und jeder Balkon war doch
zumindest von einem schreienden Redner besetzt. Inzwischen brachten
einige Kellner aus dem Gasthaus ein mit gefüllten, leuchtenden
Gläsern besetztes Brett, im Umfang eines Billards, hervor. Die
Führer organisierten die Verteilung, die in Form eines
Vorbeimarsches an der Gasthaustür erfolgte. Aber trotzdem die Gläser
auf dem Brett immer wieder nachgefüllt wurden, genügten sie für
die Menge nicht, und zwei Reihen von Schankburschen mussten rechts
und links vom Brett durchschlüpfen und die Menge weiterhin
versorgen. Der Kandidat hatte natürlich mit Reden aufgehört und
benützte die Pause, um sich neu zu kräftigen. Abseits von der Menge
und dem grellen Licht trug ihn sein Träger langsam hin und her und
nur einige seiner nächsten Anhänger begleiteten ihn dort und
sprachen zu ihm hinauf.
"Sieh
mal den Kleinen", sagte Brunelda, "er vergisst vor lauter
Schauen, wo er ist." Und sie überraschte Josie und drehte mit
beiden Händen sein Gesicht sich zu, so dass sie ihm in die Augen
sah. Es dauerte aber nur einen Augenblick, denn Josie schüttelte
gleich ihre Hände ab und ärgerlich darüber, dass man ihn nicht ein
Weilchen lang in Ruhe ließ und gleichzeitig voll Lust auf die Straße
zu gehen und alles von der Nähe anzusehen, suchte er sich nun mit
aller Kraft vom Druck Bruneldas zu befreien und sagte: "Bitte,
lassen Sie mich weg." "Du wirst bei uns bleiben",
sagte Delamarche, ohne den Blick von der Straße zu wenden und
streckte nur eine Hand aus, um Josie am Weggehen zu verhindern.
"Lass
nur", sagte Brunelda und wehrte die Hand Delamarches ab, "er
bleibt ja schon." Und sie drückte Josie noch fester ans
Geländer, er hätte mit ihr raufen müssen, um sich von ihr zu
befreien. Und wenn ihm das auch gelungen wäre, was hätte er damit
erreicht. Links von ihm stand Delamarche, rechts hatte sich nun
Robinson aufgestellt, er war in einer regelrechten Gefangenschaft.
"Sei
froh, dass man dich nicht hinaus wirft", sagte Robinson und
beklopfte Josie mit der Hand, die er unter Bruneldas Arm durchgezogen
hatte.
"Hinaus
wirft?" sagte Delamarche. "Einen entlaufenen Dieb wirft man
nicht hinaus, den übergibt man der Polizei. Und das kann ihm gleich
morgen früh geschehen, wenn er nicht ganz ruhig ist."
Von
diesem Augenblick an hatte Josie an dem Schauspiel unten keine Freude
mehr. Nur gezwungen, weil er Bruneldas wegen sich nicht aufrichten
konnte, beugte er sich ein wenig über das Geländer. Voll eigener
Sorgen, mit zerstreuten Blicken, sah er die Leute unten an, die in
Gruppen von etwa zwanzig Mann vor die Gasthaustüre traten, die
Gläser ergriffen, sich umdrehten und diese Gläser in der Richtung
gegen den jetzt mit sich beschäftigten Kandidaten schwenkten, einen
Parteigruß ausriefen, die Gläser leerten und sie, jedenfalls
dröhnend, in dieser Höhe aber unhörbar, auf das Brett wieder
nieder setzten, um einer neuen, vor Ungeduld lärmenden Gruppe Platz
zu machen. Über Auftrag der Führer war die Kapelle, die bisher im
Gasthaus gespielt hatte, auf die Gasse getreten, ihre großen
Blasinstrumente strahlten aus der dunklen Menge, aber ihr Spiel
verging fast im allgemeinen Lärm. Die Straße war nun wenigstens auf
der Seite, wo sich das Gasthaus befand, weithin mit Menschen
angefüllt. Von oben, von wo Josie am Morgen im Automobil gekommen
war, strömten sie herab, von unten, von der Brücke her, liefen sie
herauf und selbst die Leute in den Häusern hatten der Verlockung
nicht widerstehen können, in diese Angelegenheit mit eigenen Händen
einzugreifen, auf den Balkonen und in den Fenstern waren fast nur
Frauen und Kinder zurückgeblieben, während die Männer unten aus
den Haustoren drängten. Nun aber hatte die Musik und die Bewirtung
den Zweck erreicht, die Versammlung war genügend groß, -ein von
zwei Automobillaternen flankierter Führer winkte die Musik ab, stieß
einen starken Pfiff aus und nun sah man den ein wenig abgeirrten
Träger mit dem Kandidaten durch einen von Anhängern gebahnten Weg
eiligst herbei kommen.
Kaum
war er bei der Gasthaustüre, begann der Kandidat im Schein der nun
im engen Kreis um ihn gehaltenen Automobillaternen seine neue Rede.
Aber nun war alles viel schwieriger als früher, der Träger hatte
nicht die geringste Bewegungsfreiheit mehr, das Gedränge war zu
groß. Die nächsten Anhänger, die früher mit allen möglichen
Mitteln die Wirkung der Reden des Kandidaten zu verstärken versucht
hatten, hatten nun Mühe, sich in seiner Nähe zu erhalten, wohl
zwanzig hielten sich mit aller Anstrengung am Träger fest. Aber
selbst dieser starke Mann konnte keinen Schritt nach seinem Willen
mehr machen, an eine Einflussnahme der Menge durch bestimmte
Wendungen oder durch passendes Vorrücken oder Zurückweichen war
nicht mehr zu denken. Die Menge flutete ohne Plan, einer lag am
andern, keiner stand mehr aufrecht, die Gegner schienen sich durch
neues Publikum sehr vermehrt zu haben, der Träger hatte sich lange
in der Nähe der Gasthaustüre gehalten, nun aber ließ er sich
scheinbar ohne Widerstand die Gasse auf und abwärts treiben, der
Kandidat redete immerfort, aber es war nicht mehr ganz klar, ob er
sein Programm auseinander legte oder um Hilfe rief; wenn nicht alles
täuschte, hatte sich auch ein Gegenkandidat eingefunden, oder gar
mehrere, denn hier und da sah man in irgendeinem plötzlich
aufflammenden Licht einen von der Menge empor gehobenen Mann mit
bleichem Gesicht und geballten Fäusten eine von vielstimmigen Rufen
begrüßte Rede halten.
"Was
geschieht denn da?" fragte Josie und wandte sich in atemloser
Verwirrung an seine Wächter.
"Wie
es den Kleinen aufregt", sagte Brunelda zu Delamarche und fasste
Josie am Kinn, um seinen Kopf an sich zu ziehen. Aber das wollte
Josie nicht und er schüttelte sich, durch die Vorgänge auf der
Straße förmlich rücksichtsloser gemacht, so stark, dass Brunelda
ihn nicht nur losließ, sondern zurückwich und ihn gänzlich
freigab. "Jetzt hast du genug gesehen", sagte sie, offenbar
durch Josies Benehmen böse gemacht, "geh ins Zimmer, bette auf
und bereite alles für die Nacht vor." Sie streckte die Hand
nach dem Zimmer aus. Das war ja die Richtung, die Josie schon seit
einigen Stunden nehmen wollte, er widersprach mit keinem Wort. Da
hörte man von der Gasse her das Krachen von vielem zersplitternden
Glas. Josie konnte sich nicht bezwingen und sprang noch rasch zum
Geländer, um flüchtig noch einmal hinunter zu schauen. Ein Anschlag
der Gegner und vielleicht ein entscheidender war geglückt, die
Automobillaternen der Anhänger, die mit ihrem starken Licht
wenigstens die Hauptvorgänge vor der gesamten Öffentlichkeit
geschehen ließen und dadurch alles in gewissen Grenzen gehalten
hatten, waren sämtlich und gleichzeitig zerschmettert worden, den
Kandidaten und seinen Träger umfing nun die gemeinsame, unsichere
Beleuchtung, die in ihrer plötzlichen Ausbreitung wie völlige
Finsternis wirkte. Auch nicht beiläufig hätte man jetzt angeben
können, wo sich der Kandidat befand und das Täuschende des Dunkels
wurde noch vermehrt durch einen gerade einsetzenden, breiten,
einheitlichen Gesang, der von unten, von der Brücke her sich
näherte.
"Habe
ich dir nicht gesagt, was du jetzt zu tun hast", sagte Brunelda,
"beeile dich. Ich bin müde", fügte sie hinzu und streckte
dann die Arme in die Höhe, so dass sich ihre Brust noch viel mehr
wölbte als gewöhnlich. Delamarche, der sie noch immer umfasst
hielt, zog sie mit sich in eine Ecke des Balkons. Robinson ging ihnen
nach, um die Überbleibsel seines Essens, die noch dort lagen,
beiseite zu schieben.
Diese
günstige Gelegenheit musste Josie ausnützen, jetzt war keine Zeit
hinunter zu schauen, von den Vorgängen auf der Straße würde er
unten noch genug sehen und mehr als von hier oben. In zwei Sprüngen
eilte er durch das rötlich beleuchtete Zimmer, aber die Tür war
verschlossen und der Schlüssel abgezogen. Der musste jetzt gefunden
werden, aber wer wollte in dieser Unordnung einen Schlüssel finden
und gar in der kurzen, kostbaren Zeit, die Josie zur Verfügung
stand. Jetzt hätte er schon eigentlich auf der Treppe sein, hätte
laufen und laufen sollen. Und nun suchte er den Schlüssel! Suchte
ihn in allen zugänglichen Schubladen, stöberte auf dem Tisch herum,
wo verschiedenes Essgeschirr, Servietten und irgendeine angefangene
Stickerei herum lagen, wurde durch einen Lehnstuhl angelockt, auf dem
ein ganz verfilzter Haufen alter Kleidungsstücke sich befand, in
denen der Schlüssel sich möglicherweise befinden, aber niemals
aufgefunden werden konnte und warf sich schließlich auf das
tatsächlich übel riechende Kanapee, um in allen Ecken und Falten
nach dem Schlüssel zu tasten. Dann ließ er vom Suchen ab und
stockte in der Mitte des Zimmers. Gewiss hatte Brunelda den Schlüssel
an ihrem Gürtel befestigt, sagte er sich, dort hingen ja so viele
Sachen, alles Suchen war umsonst.
Und
blindlings ergriff Josie zwei Messer und bohrte sie zwischen die
Türflügel, eines oben, eines unten, um zwei voneinander entfernte
Angriffspunkte zu erhalten. Kaum hatte er an den Messern gezogen,
brachen natürlich die Klingen entzwei. Er hatte nichts anderes
wollen, die Stümpfe, die er nun fester einbohren konnte, würden
desto besser halten. Und nun zog er mit aller Kraft, die Arme weit
ausgebreitet, die Beine weit auseinander gestemmt, stöhnend und
dabei genau auf die Tür aufpassend. Sie würde nicht auf die Dauer
widerstehen können, das erkannte er mit Freuden aus dem deutlich
hörbaren Sichlockern der Riegel, je langsamer es aber ging, desto
richtiger war es, aufspringen durfte ja das Schloss gar nicht, sonst
würde man ja auf dem Balkon aufmerksam werden, das Schloss musste
sich vielmehr ganz langsam voneinander lösen und darauf arbeitete
Josie mit größter Vorsicht hin, die Augen immer mehr dem Schlosse
nähernd.
"Seht
einmal", hörte er da die Stimme Delamarches. Alle drei standen
im Zimmer, der Vorhang war hinter ihnen schon zugezogen, Josie musste
ihr Kommen überhört haben, die Hände sanken ihm bei dem Anblick
von den Messern herab. Aber er hatte gar nicht Zeit, irgendein Wort
zur Erklärung oder Entschuldigung zu sagen, denn in einem weit über
die augenblickliche Gelegenheit hinausgehenden Wutanfall sprang
Delamarche — sein gelöstes Schlafrockseil beschrieb eine große
Figur in der Luft — auf Josie los. Josie wich noch im letzten
Augenblick dem Angriff aus, er hätte die Messer aus der Tür ziehen
und zur Verteidigung benützen können, aber das tat er nicht,
dagegen griff er sich bückend und aufspringend nach dem breiten
Schlafrockkragen Delamarches, schlug ihn in die Höhe, zog ihn dann
noch weiter hinauf — der Schlafrock war ja für Delamarche viel zu
groß — und hielt nun glücklich Delamarche beim Kopf, der allzu
sehr überrascht, zuerst blind mit den Händen fuchtelte und erst
nach einem Weilchen, aber noch nicht mit ganzer Wirkung mit den
Fäusten auf Josies Rücken schlug, der sich, um sein Gesicht zu
schützen, an die Brust Delamarches geworfen hatte. Die Faustschläge
ertrug Josie, wenn er sich auch vor Schmerzen wand und wenn auch die
Schläge immer stärker wurden, aber wie hätte er das nicht ertragen
sollen, -vor sich sah er ja den Sieg. Die Hände am Kopf Delamarches,
die Daumen wohl gerade über seinen Augen, führte er ihn vor sich
her gegen das ärgste Möbeldurcheinander hin und versuchte überdies
mit den Fußspitzen das Schlafrockseil um die Füße Delamarches zu
schlingen und ihn auch so zu Fall zu bringen.
Da
er sich aber ganz und gar mit Delamarche beschäftigen musste, zumal
er dessen Widerstand immer mehr wachsen fühlte und immer sehniger
dieser feindliche Körper sich ihm entgegen stemmte, vergaß er
tatsächlich, dass er nicht mit Delamarche allein war. Aber nur allzu
bald wurde er daran erinnert, denn plötzlich versagten seine Füße,
die Robinson, der sich hinter ihm auf den Boden geworfen hatte,
schreiend auseinander presste. Seufzend ließ Josie von Delamarche
ab, der noch einen Schritt zurückwich. Brunelda stand mit weit
auseinander gestellten Beinen und gebeugten Knien in aller ihrer
Breite in der Zimmermitte und verfolgte die Vorgänge mit leuchtenden
Augen. Als beteilige sie sich tatsächlich an dem Kampf, atmete sie
tief, visierte mit den Augen und ließ ihre Fäuste langsam
vorrücken. Delamarche schlug seinen Kragen nieder, hatte nun wieder
freien Blick und nun gab es natürlich keinen Kampf mehr, sondern
bloß eine Bestrafung. Er fasste Josie vorn beim Hemd, hob ihn fast
vom Boden und schleuderte ihn, vor Verachtung sah er ihn gar nicht
an, so gewaltig gegen einen ein paar Schritte entfernten Schrank,
dass Josie im ersten Augenblick meinte, die stechenden Schmerzen im
Rücken und am Kopf, die ihm das Aufschlagen am Kasten verursachte,
stammten unmittelbar von der Hand Delamarches. "Du Halunke",
hörte er Delamarche in dem Dunkel, das vor seinen zitternden Augen
entstand, noch laut ausrufen. Und in der ersten Erschöpfung, in der
er vor dem Kasten zusammen sank, klangen ihm die Worte "Warte
nur" noch schwach in den Ohren nach.
Als
er zur Besinnung kam, war es um ihn ganz finster, es mochte noch spät
in der Nacht sein, vom Balkon her drang unter dem Vorhang ein
leichter Schimmer des Mondlichts in das Zimmer. Man hörte die
ruhigen Atemzüge der drei Schläfer, die bei weitem lautesten
stammten von Brunelda, sie schnaufte im Schlaf, wie sie es bisweilen
beim Reden tat; es war aber nicht leicht festzustellen, in welcher
Richtung die einzelnen Schläfer sich befanden, das ganze Zimmer war
von dem Rauschen ihres Atems voll. Erst nachdem er seine Umgebung ein
wenig geprüft hatte, dachte Josie an sich und da erschrak er sehr,
denn wenn er sich auch ganz krumm und steif von Schmerzen fühlte, so
hatte er doch nicht daran gedacht, dass er eine schwere, blutige
Verletzung erlitten haben könnte. Nun aber hatte er eine Last auf
dem Kopf und das ganze Gesicht, der Hals, die Brust unter dem Hemd
waren feucht wie von Blut. Er musste ans Licht, um seinen Zustand
genau festzustellen, vielleicht hatte man ihn zum Krüppel
geschlagen, dann würde ihn Delamarche wohl gerne entlassen, aber was
sollte er dann anfangen, dann gab es wirklich keine Aussichten mehr
für ihn. Der Bursche mit der zerfressenen Nase im Torweg fiel ihm
ein und er legte einen Augenblick lang das Gesicht in seine Hände.
Unwillkürlich
wendete er sich dann der Tür zu und tastete sich auf allen Vieren
hin. Bald erfühlte er mit den Fingerspitzen einen Stiefel und
weiterhin ein Bein. Das war Robinson, wer schlief sonst in Stiefeln?
Man hatte ihm befohlen, sich quer vor die Tür zu legen, um Josie an
der Flucht zu hindern. Aber kannte man denn Josies Zustand nicht?
Vorläufig wollte er gar nicht entfliehen, er wollte nur ans Licht
kommen. Konnte er also nicht zur Tür hinaus, so musste er auf den
Balkon.
Den
Esstisch fand er an einer offenbar ganz anderen Stelle als am Abend,
das Kanapee, dem sich Josie natürlich sehr vorsichtig näherte, war
überraschenderweise leer, dagegen stieß er in der Zimmermitte auf
hoch geschichtete, wenn auch stark gepresste Kleider, Decken,
Vorhänge, Polster und Teppiche. Zuerst dachte er, es sei nur ein
kleiner Haufen, ähnlich dem, den er am Abend auf dem Sofa gefunden
hatte und der etwa auf die Erde gerollt war, aber zu seinem Staunen
bemerkte er beim Weiterkriechen, dass da eine ganze Wagenladung
solcher Sachen lag, die man wahrscheinlich für die Nacht aus den
Kästen herausgenommen hatte, wo sie während des Tages aufbewahrt
wurden. Er umkroch den Haufen und erkannte bald, dass das Ganze eine
Art Bettlager darstellte, auf dem hoch oben, wie er sich durch
vorsichtigstes Tasten überzeugte, Delamarche und Brunelda ruhten.
Jetzt
wusste er also, wo alle schliefen und beeilte sich nun, auf den
Balkon zu kommen. Es war eine ganz andere Welt, in der er sich nun,
außerhalb des Vorhangs, schnell erhob. In der frischen Nachtluft, im
vollen Schein des Mondes ging er einige Mal auf dem Balkon auf und
ab. Er sah auf die Straße, sie war ganz still, aus dem Gasthaus
klang noch die Musik, aber nur gedämpft hervor, vor der Tür kehrte
ein Mann das Trottoir, in der Gasse, in der am Abend innerhalb des
wüsten, allgemeinen Lärms das Schreien eines Wahlkandidaten von
tausend anderen Stimmen nicht hatte unterschieden werden können,
hörte man nun deutlich das Kratzen des Besens auf dem Pflaster.
Das
Rücken eines Tisches auf dem Nachbarbalkon machte Josie aufmerksam,
dort saß ja jemand und studierte. Es war ein junger Mann mit einem
kleinen Spitzbart, an dem er beim Lesen, das er mit raschen
Lippenbewegungen begleitete, ständig drehte. Er saß, das Gesicht
Josie zugewendet, an einem kleinen, mit Büchern bedeckten Tisch, die
Glühlampe hatte er von der Mauer abgenommen, zwischen zwei große
Bücher geklemmt und war nun von ihrem grellen Licht ganz
überleuchtet.
"Guten
Abend", sagte Josie, da er bemerkt zu haben glaubte, dass der
junge Mann zu ihm herüber geschaut hätte.
Aber
das musste wohl ein Irrtum gewesen sein, denn der junge Mann schien
ihn überhaupt noch nicht bemerkt zu haben, legte die Hand über die
Augen, um das Licht abzublenden und festzustellen, wer da plötzlich
grüßte und hob dann, da er noch immer nichts sah, die Glühlampe
hoch, um mit ihr auch den Nachbarbalkon ein wenig zu beleuchten.
"Guten
Abend", sagte dann auch er, blickte einen Augenblick lang scharf
herüber und fügte dann hinzu: "Und was weiter?"
"Ich
störe Sie?" fragte Josie.
"Gewiss,
gewiss", sagte der Mann und brachte die Glühlampe wieder an
ihren früheren Ort.
Mit
diesen Worten war allerdings jede Anknüpfung abgelehnt, aber Josie
verließ trotzdem die Balkonecke, in der er dem Manne am nächsten
war, nicht. Stumm sah er zu, wie der Mann in seinem Buche las, die
Blätter wendete, hier und da in einem andern Buche, das er immer mit
Blitzesschnelle ergriff, irgendetwas nachschlug und öfters Notizen
in ein Heft eintrug, wobei er immer überraschend tief das Gesicht zu
dem Hefte senkte.
Ob
dieser Mann vielleicht ein Student war? Es sah ganz so aus, als ob er
studierte. Nicht viel anders — jetzt war es schon lange her — war
Josie zuhause am Tisch der Eltern gesessen und hatte seine Aufgaben
geschrieben, während der Vater die Zeitung las oder Bucheintragungen
und Korrespondenzen für einen Verein erledigte und die Mutter mit
einer Näharbeit beschäftigt war und hoch den Faden aus dem Stoffe
zog. Um den Vater nicht zu belästigen, hatte Josie nur das Heft und
das Schreibzeug auf den Tisch gelegt, während er die nötigen Bücher
rechts und links von sich auf Sesseln angeordnet hatte. Wie still war
es dort gewesen! Wie selten waren fremde Leute in jenes Zimmer
gekommen! Schon als kleines Kind hatte Josie immer gerne zugesehen,
wenn die Mutter gegen Abend die Wohnungstür mit dem Schlüssel
absperrte. Sie hatte keine Ahnung davon, dass es jetzt mit Josie so
weit gekommen war, dass er fremde Türen mit Messern aufzubrechen
suchte.
Und
welchen Zweck hatte sein ganzes Studium gehabt! Er hatte ja alles
vergessen; wenn es darauf angekommen wäre, hier sein Studium
fortzusetzen, es wäre ihm sehr schwer geworden. Er erinnerte sich
daran, dass er zuhause einmal einen Monat lang krank gewesen war —
welche Mühe hatte es ihn damals gekostet, sich nachher wieder in dem
unterbrochenen Lernen zurechtzufinden. Und nun hatte er außer dem
Lehrbuch der englischen Handelskorrespondenz schon so lange kein Buch
gelesen.
"Sie,
junger Mann", hörte sich Josie plötzlich angesprochen,
"könnten Sie sich nicht anderswo aufstellen? Ihr Herüberstarren
stört mich schrecklich. Um zwei Uhr in der Nacht kann man doch
schließlich verlangen, auf dem Balkon ungestört arbeiten zu können.
Wollen Sie denn etwas von mir?"
"Sie
studieren?" fragte Josie.
"Ja,
ja", sagte der Mann und benutzte dieses für das Lernen
verlorene Weilchen, um unter seinen Büchern eine neue Ordnung
einzurichten.
"Dann
will ich Sie nicht stören", sagte Josie, "ich gehe
überhaupt schon ins Zimmer zurück. Gute Nacht."
Der
Mann gab nicht einmal eine Antwort, mit einem plötzlichen
Entschlusse hatte er sich nach Beseitigung dieser Störung wieder ans
Studieren gemacht und stützte die Stirn schwer in die rechte Hand.
Da
erinnerte sich Josie knapp vor dem Vorhang daran, warum er eigentlich
herausgekommen war, er wusste ja noch gar nicht, wie es mit ihm
stand. Was lastete nur so auf seinem Kopf? Er griff hinauf und
staunte, da war keine blutige Verletzung, wie er im Dunkel des
Zimmers gefürchtet hatte, es war nur ein noch immer feuchter,
turbanartiger Verband. Er war, nach den noch hier und da hängenden
Spitzenüberresten zu schließen, aus einem alten Wäschestück
Bruneldas gerissen und Robinson hatte ihn wohl flüchtig Josie um den
Kopf gewickelt. Nur hatte er vergessen, ihn auszuwinden und so war
während Josies Bewusstlosigkeit das viele Wasser das Gesicht herab
und unter das Hemd geronnen und hatte Josie einen solchen Schrecken
eingejagt.
"Sie
sind wohl noch immer da?" fragte der Mann und blinzelte herüber.
"Jetzt
gehe ich aber schon wirklich", sagte Josie, "ich wollte
hier nur etwas anschauen, im Zimmer ist es ganz finster."
"Wer
sind Sie denn?" sagte der Mann, legte den Federhalter in das vor
ihm geöffnete Buch und trat an das Geländer. "Wie heißen Sie?
Wie kommen Sie zu den Leuten? Sind Sie schon lange hier? Was wollen
Sie denn anschauen? Drehen Sie doch ihre Glühlampe dort auf, damit
man Sie sehen kann."
Josie
tat dies, zog aber, ehe er antwortete, noch den Vorhang der Tür
fester zu, damit man im Innern nichts merken konnte. "Verzeihen
Sie", sagte er dann im Flüsterton, "dass ich so leise
rede. Wenn mich die drinnen hören, habe ich wieder einen Krawall."
"Wieder?"
fragte der Mann.
"Ja",
sagte Josie, "ich habe ja erst am Abend einen großen Streit mit
ihnen gehabt. Ich muss da noch eine fürchterliche Beule haben."
Und er tastete hinten seinen Kopf ab.
"Was
war denn das für ein Streit?" fragte der Mann und fügte, da
Josie nicht gleich antwortete, hinzu: "Mir können Sie ruhig
alles anvertrauen, was Sie gegen diese Herrschaften auf dem Herzen
haben. Ich hasse sie nämlich alle drei und ganz besonders ihre
Madame. Es sollte mich übrigens wundern, wenn man Sie nicht schon
gegen mich gehetzt hätte. Ich heiße Josef Mendel und bin Student."
"Ja",
sagte Josie, "erzählt hat man mir schon von ihnen, aber nichts
Schlimmes. Sie haben wohl einmal Frau Brunelda behandelt, nicht
wahr?"
"Das
stimmt", sagte der Student und lachte, "riecht das Kanapee
noch danach?"
"Oh
ja", sagte Josie.
"Das
freut mich aber", sagte der Student und fuhr mit der Hand durchs
Haar. "Und warum macht man ihnen Beulen?"
"Es
war ein Streit", sagte Josie im Nachdenken darüber, wie er es
dem Studenten erklären sollte. Dann aber unterbrach er sich und
sagte: "Störe ich Sie denn nicht?"
"Erstens",
sagte der Student, "haben Sie mich schon gestört und ich bin
leider so nervös, dass ich lange Zeit brauche, um mich wieder hinein
zu finden. Seit Sie da ihre Spaziergänge auf dem Balkon angefangen
haben, komme ich mit dem Studieren nicht vorwärts. Zweitens aber
mache ich um drei Uhr immer eine Pause. Erzählen Sie also nur ruhig.
Es interessiert mich auch."
"Es
ist ganz einfach", sagte Josie, "Delamarche will, dass ich
bei ihm Diener werde. Aber ich will nicht. Ich wäre am liebsten noch
gleich abends weggegangen. Er wollte mich nicht lassen, hat die Tür
abgesperrt, ich wollte sie aufbrechen und dann kam es zu der
Rauferei. Ich bin unglücklich, dass ich noch hier bin."
"Haben
Sie denn eine andere Stellung?" fragte der Student. "Nein",
sagte Josie, "aber daran liegt mir nichts, wenn ich nur von hier
fort wäre."
"Hören
Sie einmal", sagte der Student, "daran liegt ihnen nichts?"
Und beide schwiegen ein Weilchen.
"Warum
wollen Sie denn bei den Leuten nicht bleiben?" fragte dann der
Student.
"Delamarche
ist ein schlechter Mensch", sagte Josie, "ich kenne ihn
schon von früher her. Ich marschierte einmal einen Tag lang mit ihm
und war froh, als ich nicht mehr bei ihm war. Und jetzt soll ich
Diener bei ihm werden?"
"Wenn
alle Diener bei der Auswahl ihrer Herrschaften so heikel sein wollten
wie Sie!" sagte der Student und schien zu lächeln. "Sehen
Sie, ich bin während des Tages Verkäufer, niedrigster Verkäufer,
eher schon Laufbursche im Warenhaus von Montly. Dieser Montly ist
zweifellos ein Schurke, aber das lässt mich ganz ruhig, wütend bin
ich nur, dass ich so elend bezahlt werde. Nehmen Sie sich also an mir
ein Beispiel."
"Wie?"
sagte Josie, "Sie sind bei Tag Verkäufer und in der Nacht
studieren Sie?"
"Ja",
sagte der Student, "es geht nicht anders. Ich habe schon alles
Mögliche versucht, aber diese Lebensweise ist noch die beste. Vor
Jahren war ich nur Student, bei Tag und Nacht, wissen Sie, nur bin
ich dabei fast verhungert, habe in einer schmutzigen alten Höhle
geschlafen und wagte mich in meinem damaligen Anzug nicht in die
Hörsäle. Aber das ist vorüber."
"Aber
wann schlafen Sie?" fragte Josie und sah den Studenten
verwundert an.
"Ja,
schlafen!" sagte der Student, "schlafen werde ich, wenn ich
mit meinem Studium fertig bin. Vorläufig trinke ich schwarzen
Kaffee." Und er wandte sich um, zog unter seinem Studiertisch
eine große Flasche hervor, goss aus ihr schwarzen Kaffee in ein
Tässchen und schüttete ihn in sich hinein, so wie man Medizinen
eilig schluckt, um möglichst wenig von ihrem Geschmack zu spüren.
"Eine
feine Sache, der schwarze Kaffee", sagte der Student, "schade,
dass Sie so weit sind, dass ich ihnen nicht ein wenig hinüber
reichen kann."
"Mir
schmeckt schwarzer Kaffee nicht", sagte Josie.
"Mir
auch nicht", sagte der Student und lachte. "Aber was wollte
ich ohne ihn anfangen. Ohne den schwarzen Kaffee würde mich Montly
keinen Augenblick behalten. Ich sage immer Montly, trotzdem der
natürlich keine Ahnung hat, dass ich auf der Welt bin. Ganz genau
weiß ich nicht, wie ich mich im Geschäft benehmen würde, wenn ich
nicht dort im Pult eine gleich große Flasche wie diese immer
vorbereitet hätte, denn ich habe noch nie gewagt, mit dem
Kaffeetrinken auszusetzen, aber vertrauen Sie nur, ich würde bald
hinter dem Pulte liegen und schlafen. Leider ahnt man das, sie nennen
mich dort den 'schwarzen Kaffee', was ein blödsinniger Witz ist und
mir gewiss in meinem Vorwärtskommen schon geschadet hat."
"Und
wann werden Sie mit ihrem Studium fertig werden?" fragte Josie.
"Es geht langsam", sagte der Student mit gesenktem Kopf. Er
verließ das Geländer und setzte sich wieder an den Tisch; die
Ellbogen auf das offene Buch aufgestützt, mit den Händen durch
seine Haare fahrend sagte er dann: "Es kann noch ein bis zwei
Jahre dauern."
"Ich
wollte auch studieren", sagte Josie, als gebe ihm dieser Umstand
ein Anrecht auf ein noch größeres Vertrauen, als es der jetzt
verstummende Student ihm gegenüber schon bewiesen hatte.
"So",
sagte der Student und es war nicht ganz klar, ob er in seinem Buche
schon wieder las oder nur zerstreut hinein starrte, "seien Sie
froh, dass Sie das Studium aufgegeben haben. Ich selbst studiere
schon seit Jahren eigentlich nur aus Konsequenz. Befriedigung habe
ich wenig davon und Zukunftsaussichten noch weniger. Was für
Aussichten wollte ich denn haben! Amerika ist voll von
Schwindeldoktoren."
"Ich
wollte Ingenieur werden", sagte Josie noch eilig zu dem
scheinbar schon gänzlich unaufmerksamen Studenten hinüber.
"Und
jetzt sollen Sie Diener bei diesen Leuten werden", sagte der
Student und sah flüchtig auf, "das schmerzt Sie natürlich."
Diese
Schlussfolgerung des Studenten war allerdings ein Missverständnis,
aber vielleicht konnte es Josie beim Studenten nutzen. Er fragte
deshalb: "Könnte ich nicht vielleicht auch eine Stelle im
Warenhaus bekommen?"
Diese
Frage riss den Studenten völlig von seinem Buche los; der Gedanke,
dass er Josie bei seiner Postenbewerbung behilflich sein könnte, kam
ihm gar nicht. "Versuchen Sie es", sagte er, "oder
versuchen Sie es lieber nicht. Dass ich meinen Posten bei Montly
bekommen habe, ist der bisher größte Erfolg meines Lebens gewesen.
Wenn ich zwischen dem Studium und meinem Posten zu wählen hätte,
würde ich natürlich den Posten wählen. Meine Anstrengung geht nur
darauf hin, die Notwendigkeit einer solchen Wahl nicht eintreten zu
lassen."
"So
schwer ist es, dort einen Posten zu bekommen", sagte Josie mehr
für sich.
"Ach,
was denken Sie denn", sagte der Student, "es ist leichter,
hier Bezirksrichter zu werden, als Türöffner bei Montly."
Josie
schwieg. Dieser Student, der doch so viel erfahrener war als er, der
Delamarche aus irgendwelchen, Josie noch unbekannten Gründen hasste,
der dagegen Josie gewiss nichts Schlechtes wünschte, fand für Josie
kein Wort der Aufmunterung, Delamarche zu verlassen. Und dabei kannte
er noch gar nicht die Gefahr, die Josie von der Polizei drohte und
vor der er nur bei Delamarche halbwegs geschützt war.
"Sie
haben doch am Abend die Demonstration unten gesehen? Nicht wahr? Wenn
man die Verhältnisse nicht kennen würde, sollte man doch denken,
dieser Kandidat, er heißt Lobter, werde doch irgendwelche Aussichten
haben oder er komme doch wenigstens in Betracht, nicht?"
"Ich
verstehe von Politik nichts", sagte Josie.
"Das
ist ein Fehler", sagte der Student. "Aber abgesehen davon
haben Sie doch Augen und Ohren. Der Mann hat doch zweifellos Freunde
und Feinde gehabt, das kann Ihnen doch nicht entgangen sein. Und nun
bedenken Sie, der Mann hat meiner Meinung nach nicht die geringsten
Aussichten, gewählt zu werden. Ich weiß zufällig alles über ihn,
es wohnt da bei uns einer, der ihn kennt. Er ist kein unfähiger
Mensch und seinen politischen Ansichten und seiner politischen
Vergangenheit nach wäre gerade er der passende Richter für den
Bezirk. Aber kein Mensch denkt daran, dass er gewählt werden könnte,
er wird so prachtvoll durchfallen, als man durchfallen kann, er wird
für die Wahlkampagne seine paar Dollars hinausgeworfen haben, das
wird alles sein.
Josie
und der Student sahen einander ein Weilchen schweigend an. Der
Student nickte lächelnd und drückte mit einer Hand die müden
Augen.
"Nun,
werden Sie noch nicht schlafen gehen?" fragte er dann, "ich
muss ja auch wieder studieren. Sehen Sie, wie viel ich noch
durchzuarbeiten habe." Und er blätterte ein halbes Buch rasch
durch, um Josie einen Begriff von der Arbeit zu geben, die noch auf
ihn wartete.
"Dann
also gute Nacht", sagte Josie und verbeugte sich.
"Kommen
Sie doch einmal zu uns herüber“, sagte der Student, der schon
wieder an seinem Tisch saß, "natürlich nur, wenn Sie Lust
haben. Sie werden hier immer große Gesellschaft finden. Von neun bis
zehn Uhr abends habe ich auch für Sie Zeit."
"Sie
raten mir also, bei Delamarche zu bleiben?" fragte Josie.
"Unbedingt",
sagte der Student und senkte schon den Kopf zu seinen Büchern. Es
schien, als hätte gar nicht er das Wort gesagt; wie von einer Stimme
gesprochen, die tiefer war als jene des Studenten, klang es noch in
Josies Ohren nach. Langsam ging er zum Vorhang, warf noch einen Blick
auf den Studenten, der jetzt ganz unbeweglich, von der großen
Finsternis umgeben, in seinem Lichtschein saß und schlüpfte ins
Zimmer. Die vereinten Atemzüge der drei Schläfer empfingen ihn. Er
suchte die Wand entlang das Kanapee und als er es gefunden hatte,
streckte er sich ruhig auf ihm aus, als sei es sein gewohntes Lager.
Da ihm der Student, der Delamarche und die hiesigen Verhältnisse
genau kannte und überdies ein gebildeter Mann war, geraten hatte,
hier zu bleiben, hatte er vorläufig keine Bedenken. So hohe Ziele
wie der Student hatte er nicht, wer weiß, ob es ihm sogar zuhause
gelungen wäre, das Studium zu Ende zu führen und wenn es zuhause
kaum möglich schien, so konnte niemand verlangen, dass er es hier im
fremden Lande tue. Die Hoffnung aber, einen Posten zu finden, in dem
er etwas leisten und für seine Leistungen anerkannt werden könnte,
war gewiss größer, wenn er vorläufig die Dienerstelle bei
Delamarche annahm und aus dieser Sicherheit heraus die günstige
Gelegenheit abwartete. Es schienen sich ja in dieser Straße viele
Büros mittleren und unteren Ranges zu befinden, die vielleicht im
Falle des Bedarfes bei der Auswahl ihres Personals nicht gar zu
wählerisch waren. Er wollte ja gern, wenn es sein musste,
Geschäftsdiener werden, aber schließlich war es ja gar nicht
ausgeschlossen, dass er auch für reine Büroarbeit aufgenommen
werden konnte und einstmals als Bürobeamter an seinem Schreibtisch
sitzen und ohne Sorgen ein Weilchen lang aus dem offenen Fenster
schauen würde, wie jener Beamte, den er heute früh beim Durchmarsch
durch die Höfe gesehen hatte. Beruhigend fiel ihm ein, als er die
Augen schloss, dass er doch jung war und dass Delamarche ihn doch
einmal freigeben würde; dieser Haushalt sah ja wirklich nicht danach
aus, als sei er für die Ewigkeit gemacht. Wenn aber Josie einmal
einen solchen Posten in einem Büro hätte, dann wollte er sich mit
nichts anderem beschäftigen, als mit seinen Büroarbeiten, und nicht
die Kräfte zersplittern wie der Student. Wenn es nötig sein sollte,
wollte er auch die Nacht fürs Büro verwenden, was man ja im Beginn,
bei seiner geringen kaufmännischen Vorbildung, sowieso von ihm
verlangen würde. Er wollte nur an das Interesse des Geschäftes
denken, dem er zu dienen hätte und allen Arbeiten sich unterziehen,
selbst solchen, die andere Bürobeamte als ihrer nicht würdig
zurückweisen würden. Die guten Vorsätze drängten sich in seinem
Kopf, als stehe sein künftiger Chef vor dem Kanapee und lese sie von
seinem Gesicht ab.
In
solchen Gedanken schlief Josie ein und nur im ersten Halbschlaf
störte ihn noch ein gewaltiges Seufzen Bruneldas, die scheinbar von
schweren Träumen geplagt sich auf ihrem Lager wälzte.
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